URI: 
       # taz.de -- Nachruf auf Lamont Dozier: Architekt des Motown-Sounds
       
       > Der US-Produzent und Songwriter Lamont Dozier ist mit 81 Jahren
       > gestorben. Würdigung eines begnadeten Arrangeurs und Strippenziehers.
       
   IMG Bild: Lamont Dozier (links) mit den Supremes und den Brüdern Brian und Eddie Holland
       
       Sich selbst als „Black Bach“ zu bezeichnen und das Frontcover des so
       betitelten Soloalbums mit der Abbildung einer stilisierten Marmorbüste des
       eigenen Antlitzes zu schmücken, zeugt von nicht gerade wenig
       Selbstbewusstsein. Oder? Wer hatte 1974 die Chuzpe, sich als schwarzer
       Johann Sebastian vorzustellen? Duke Ellington? Julius Eastman? Sun Ra?
       
       Wahrscheinlich war es eher Verzweiflung, die Lamont Dozier zu diesem
       Albumtitel bewog, denn seine Karriere war ins Stocken geraten. Zwischen
       1962 und 1967 hatte er zusammen mit den Brüdern Eddie und Brian Holland als
       Songwriting- und Produktionsteam Holland-Dozier-Holland den
       charakteristischen Klang von Berry Gordys Detroiter Motown-Label definiert:
       „The Sound of Young America“, wie der Werbespruch der Firma nicht ganz
       unzutreffend lautete.
       
       Gordy wollte mit schwarzer Musik den weißen Markt knacken, die R&B-Charts
       reichten ihm nicht – es sollten die Popcharts sein. Dafür ließ er sich von
       H-D-H den aktuellen R&B-Sound säubern und nachsüßen (Streicher!), mit einer
       etwas sentimentaleren Harmonik anreichern und dazu charakteristische
       Rhythmen maßschneidern.
       
       Vor allem zwei Beats setzten sich durch und wurden Motown-Markenzeichen:
       der stampfende wie etwa in „I Can’t Help Myself“ von The Four Tops und der
       hüpfende wie in „You Can’t Hurry Love“ von The Supremes. Nach einigen
       Fehlversuchen legten H-D-H eine beispiellose Erfolgsserie hin und
       erreichten allein mit den Supremes zwischen 1964 und 1967 zehnmal Rang
       eins der US-Popcharts (meistens auch ähnlich hohe Platzierungen in UK und
       Europa).
       
       ## Streit und ein Neustart
       
       Dabei spülten Produktionen wie „Baby Love“, „Stop in the Name of Love“ oder
       „You Keep Me Hangin’ On“ nicht nur Dollarmillionen in die Kasse von Motown,
       sondern definierten die Popmusik der 1960er Jahre nicht weniger als der
       britische Gitarrenpop der Beatles, Kinks oder The Who. 1967 zerstritten
       sich die drei Songwriter mit ihrem Chef Berry Gordy über Geld und ihre kurz
       darauf gegründeten eigenen Labels Invictus und Hot Wax konnten trotz
       künstlerischer Glanzleistungen die [1][Motown-Erfolge] nicht wiederholen.
       
       1973 verließ Dozier die gemeinsamen Unternehmungen und wagte den Neustart
       als Sänger und Solokünstler mit dem Album „Out Here on My Own“, das er
       nicht produziert und auf dem er keinen einzigen Song geschrieben hatte.
       Stattdessen bedeutete sie den Beginn einer weiteren künstlerisch
       fruchtbaren, wenn auch finanziell weniger ertragreichen Partnerschaft: Hot
       Wax hatte 1972 ein Album der Psychedelic-Funk-Band The Politicians
       veröffentlicht und von dieser Band borgte sich Dozier den Leistungsträger
       McKinley Jackson, einen Multiinstrumentalisten, Arrangeur und Produzenten,
       der vor Ideen sprudelte und eigentlich nur ein wenig eingehegt werden
       musste, um hell zu erstrahlen.
       
       Das durfte er vor allem auf der Trilogie von Alben, die Dozier ab 1976 bei
       Warner Bros. veröffentlichte: „Right Here“, „Peddlin’ Music on the Side“
       (1977) und „Bittersweet“ (1978), drei Schatzkisten voller erfindungsreich
       arrangiertem Funk, mit großen Orchestern inklusive Hörnern und dem mehr
       denn je leuchtenden Songwriter-Handwerk von Dozier.
       
       Für die Charts war das zwar so schnell nichts, aber der Song „Going Back to
       My Roots“, der die Befindlichkeit der afroamerikanischen Bevölkerung in
       Folge der Ausstrahlung der auf Alex Haleys gleichnamigen Buch basierenden
       TV-Serie „Roots“ aufgriff, war nicht nur in der Originalversion auf
       „Peddlin’ Music on the Side“ – mit Unterstützung des südafrikanischen
       Trompeters Hugh Masekela und des nigerianischen Saxofonisten Orlando Julius
       – ein herausragendes Meisterstück, sondern wurde etliche Male gecovert und
       1981 von der New Yorker Disco-Formation Odyssey und 1989 von der
       Italo-House-Crew FPI Project schließlich doch noch zu Chartserfolgen
       geführt.
       
       ## Zusammenarbeit mit Phil Collins
       
       1982 coverte Phil Collins mit großem Erfolg den Supremes-Klassiker „You
       Can’t Hurry Love“ und suchte in der Folge die Nähe Doziers. 1988 durfte
       Collins eine Hauptrolle in der Krimikomödie „Buster“ spielen und schrieb
       für den Soundtrack mit Dozier zusammen unter anderem den Song „Two Hearts“,
       den er selber performte, und „Loco in Acapulco“, den die Four Tops singen
       durften und die beide wiederum zu Top-Ten-Erfolgen wurde.
       
       Danach wandten sich auch jüngere Soul-affine britische Stars an Dozier,
       etwa Simply Red und Allison Moyet, wobei weitere Hits entstanden, für die
       jedoch keiner der Beteiligten sich als Nachfolge von Bach ins Spiel bringen
       dürfte.
       
       Aber der Bach-Vergleich ergab inhaltlich ohnehin nie Sinn. Doziers Ziel
       waren weniger kompositorisch-künstlerische Innovationen als
       Charts-Platzierungen. Wobei er als einer der wichtigsten Architekten des
       Motown-Sounds der Welt schon eine feste Burg hinterließ, auf die von
       Stock-Aitken-Waterman bis [2][Pharrell Williams] etliche
       Nachfolger*innen bauen konnten. Lamont Dozier starb am 8. August in
       seinem Haus in Scottsdale (Arizona) im Alter von 81 Jahren.
       
       10 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /US-Industriestadt-Detroit/!5463905
   DIR [2] /Berliner-Konzert-von-Pharrell-Williams/!5032966
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Diederichsen
       
       ## TAGS
       
   DIR Soul
   DIR Funk
   DIR Pop
   DIR Detroit
   DIR USA
   DIR Spiritual Jazz
   DIR Nachruf
   DIR Westafrika
   DIR Detroit
   DIR Dokumentarfilm
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Sun Ra Arkestra in Hamburg: Kosmische Töne zur Heilung der Welt
       
       Die Hamburger Afro-Futurismus-Reihe steuert auf ihren glitzernden Höhepunkt
       zu: Am Sonntag spielt das Sun Ra Arkestra in der Elbphilharmonie.
       
   DIR Nachruf auf Jazzmusiker Rolf Kühn: Er verfeinerte das freie Spiel
       
       Rolf Kühn hat mit den Größen des Jazz gespielt, zog von Ost- nach
       Westdeutschland und war ein wichtiger Multiplikator. Nun ist er 92-jährig
       gestorben.
       
   DIR Motown meets Westafrika: Ihrer Zeit weit voraus
       
       1980 kamen westafrikanische Musiker nach L.A.. Mit Motown-Künstlern
       spielten sie „Eboni Band“ ein: Fantastische Musik, nun
       wiederveröffentlicht.
       
   DIR Debütalbum von Waajeed aus Detroit: Funk und Dreck und Tech
       
       Der Dancefloor-Produzent Waajeed veröffentlicht sein Debütalbum „From the
       Dirt“. Es ist choreografiert wie ein Gospelgottesdienst.
       
   DIR Musikdokumentation: Aufstieg und Fall andersherum
       
       Mit „Searching for Sugar Man“ hat Malik Bendjelloul einen Film über den
       mexikanischamerikanischen Musiker Sixto Rodriguez gemacht.