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       # taz.de -- Elektronik-Produzentin Natalie Beridze: Leben in Langsamkeit
       
       > Die georgische Produzentin Natalie Beridze hat ihr Album „Of Which One
       > Knows“ veröffentlicht. In der minimalistischen Musik arbeitet sie mit
       > Reduktion.
       
   IMG Bild: Mehr Licht! Die georgische Künstlerin Natalie Beridze übt sich in Zurückhaltung
       
       Einer Kirchenorgel werden Töne entlockt, die von Ferne an Johann Sebastian
       Bachs „Präludium“ erinnern. Das Knarzen des alten „lebendigen“ Holzbodens
       der Empore rahmt die Orgeltöne ein. Trotzdem klingt „Sadness“, das Finale
       von Natalie Beridzes neuem Album „Of Which One Knows“ aufgeräumt.
       
       Denn die 43-jährige georgische Künstlerin braucht für dieses Klangbild
       nicht mehr als einen Laptop und ein Midi-Keyboard. Ihr gelingen mit
       minimalem Equipment maximale Kompositionen, die keinen Adressaten brauchen,
       dafür aber Räume schaffen.
       
       Entstanden sind die teils mehr als sechsminütigen Tracks über einen langen
       Zeitraum, zwischen 2007 und 2021. Vor sechs Jahren landete Beridze mit „For
       Love“ einen Achtungserfolg. Jeglichen Poptouch, den sie bei jenem Song noch
       mit Freude bediente, hat sie inzwischen abgelegt.
       
       Das Motiv der Entschleunigung, der nicht vorkommenden Viertel-, geschweige
       den Achtelnoten bestimmte schon „For Love“. In den neun Kompositionen des
       neuen Albums wird die Reduktion zu einer Qualität, die den Raum ins
       Unendliche vergrößert.
       
       ## Zarte Feder
       
       Es ist das einstimmig gespielte Tasteninstrument, das in vielen Stücken
       dominiert. Umrahmt, unterstützt, aber auch gestört wird es von
       Umweltgeräuschen. Als würde ein Lederlappen am Fenster entlang wienern oder
       ein Stift auf der Keramikoberfläche von Heizkörpern schrammen – zum
       Beispiel.
       
       Manchmal dringen von irgendwoher Stimmen eines körperlosen Chores. Fast
       unendlich hallt es. Und Hall ist auch das verbindende Element der
       Kompositionen. Sie sind sphärisch, aber keine „Sphärenmusik“. Dazu sind
       Beridzes Musikstücke zu eigenständig, zu spröde und, sie haben dazu noch
       mehrere Bedeutungsebenen.
       
       Das ist das eigentlich Anziehende an ihrem Sound: Beridzes Musik biedert
       sich nie an, ist sich selbst genug und lässt so unglaublich viel
       Assoziationsspielraum. Würde man einen Raum mit Menschen füllen und dann
       „Of Which One Knows“ auflegen, hätte definitiv jeder völlig andere Bilder
       im Kopf. Das ist Musik, die nicht wie eine Dampfwalze über dich herfällt,
       sondern zart wie eine Feder berührt, subtil andockt und dann mitnimmt mit
       ihren Klangwellen.
       
       Für ein paar Minuten bist du irgendwo, nur nicht hier. Sei es eine
       imaginäre verlassene Kirche, in der die Orgelpfeifen in der Sonne glänzen,
       sei es die [1][räumliche Unendlichkeit]. Sei es ein Ausflug in die
       Vergangenheit, weil dich eine Tonfolge an ein Lied deiner Kindheit
       erinnert.
       
       ## Alte Volkslieder
       
       Natalie Beridze veröffentlicht unter dem Pseudonym TBA im Jahr 2003
       erstmals Musik in Deutschland. 2005 geht sie nach Berlin und bringt von da
       an ihre Kompositionen beim [2][Kölner Elektronik-Label] Max Ernst heraus.
       Lange bleibt sie nicht in Deutschland, 2007 zieht es sie zurück in den
       Kaukasus. 1979 in Tiflis geboren, wohnt sie inzwischen wieder dort. In
       einer Seitenstraße der Altstadt, da stehen Laptop und Midi-Keyboard in
       einem kleinen Arbeitszimmer. Georgische Volkslieder sind für Beridze
       Bezugspunkte.
       
       Sie beschreibt den polyphonen Gesang der alten Lieder als komplex und
       einzigartig. Schon während ihrer Kindheit wird sie auch mit der Musik von
       [3][Dmitri Schostakowitsch] vertraut gemacht. Sie schätzt und liebt diesen
       sowjetischen Ausnahmekomponisten. Der junge Schostakowitsch hat sich seinen
       Lebensunterhalt in den zwanziger Jahren als Stummfilmpianist verdient.
       Dabei hat er Geschwindigkeit gelernt. Tempo ist bei seinen Kompositionen
       immer wieder wichtig. Demgegenüber lebt Beridzes Musik in und von der
       Langsamkeit. Was beide aber gemeinsam haben, ist die Lust am
       Experimentieren.
       
       So hat die georgische Künstlerin auf ihrem neuen Album neun Stücke
       versammelt, die oft von der Wiederholung oder der Variation leben, aber
       trotzdem nicht vorhersehbar sind, da Beridze irritierende musikalische
       Haken einbaut, die ein akustisches Zurücklehnen beim Zuhören nicht
       erlauben. Die mitschwingenden Unter- und Zwischentöne sind melancholisch
       wie bei „Sadness“, können aber auch bedrohliche Dimensionen annehmen.
       
       Natalie Beridze hat ihrem neuen Werk ein Zitat von Marina Zwetajewa
       vorangestellt: „Ich küsse dich jetzt – und muss dazu tausend Jahre
       überwinden.“ Die Musikerin hat die Worte der russischen Dichterin, die 1941
       Suizid beging, in „Sadness“ sehr überzeugend vertont.
       
       11 Aug 2022
       
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