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       # taz.de -- Schauspieler*innen in Indianerkostümen: Leise rieselt der Kalk
       
       > Die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg inszenieren einen Wilden Westen, den
       > es nie gab. Kann man das noch machen?
       
   IMG Bild: Ist ja nicht so, dass es nichts Neues im Westen gäbe. Auf jeden Fall Gesprächsbedarf
       
       Bad Segeberg taz | Der oberste Bösewicht kommt aus dem Felsen
       herausgeritten, durch einen Tunnel, bei dem man nicht sehen kann, wo er
       hinführt, weil gleich hinter dem Eingang eine Biegung ist. Wahrscheinlich
       führt er direkt ins sächsische Radebeul, in den Kopf von Karl May, dem die
       Siedler mit ihren Planwagen entsprungen sind, die skurrilen englischen
       Adeligen, die mit Sekretär durch die Wüste stolpern, die Apachen und auch
       die Bösewichte wie jetzt der Ölprinz.
       
       Der sprengt auf einem weißen Pferd heran – Reiten ist Ehrensache hier in
       Bad Segeberg – und wird von Sascha Hehn gespielt. Der Sascha Hehn! Der
       Chef-Stewart aus dem „Traumschiff“, der Dr. Udo Brinkmann aus der
       „Schwarzwaldklinik“. Das ist allerdings ein bisschen her, der Sascha Hehn
       2022 trägt einen markanten Vollbart mit Weißanteil, sein Gesicht liegt im
       Schatten eines breitkrempigen Huts. Am Ende wird er wie die meisten
       Bösewichte in Bad Segeberg vom großen Felsen hinunterstürzen.
       
       ## Der Spielort
       
       Die Spielstätte der Bad Segeberger Karl-May-Spiele, der Kalkberg, liegt am
       Rande der Stadt. Bis in die 1930er Jahre wurde hier Gips abgebaut, dann
       errichtete der Reichsarbeitsdienst der Nazis eine [1][„Thingstätte“]:
       halbkreisförmig angeordnete, aufsteigende Sitzreihen wie in einem
       Amphitheater, die natürliche Felslandschaft diente als Kulisse. 1937 war
       die Einweihung mit Propagandaminister Joseph Goebbels. Zur Feier wurde das
       Theaterstück „Die Schlacht der weißen Schiffe“ gegeben.
       
       Auf die Idee, an diesem Ort Karl May zu spielen, kam 1950 der Intendant der
       städtischen Bühnen in Lübeck, [2][Robert Ludwig], der den Stoff schon vor
       dem Krieg in der Sächsischen Schweiz inszeniert hatte. 1952 war [3][die
       erste Aufführung von „Winnetou“] in Bad Segeberg. Später heuerten erst der
       Film-Winnetou West, Pierre Brice, dann der Film-Winnetou Ost, Goijko Mitić,
       am Kalkberg an. Seit 2019 wird die Rolle von Alexander Claws gespielt,
       einem ehemaligen Gewinner von „Deutschland sucht den Superstar“.
       
       ## Die Inszenierung
       
       Im Laufe der Handlung von „Der Ölprinz“ fahren Planwagen mit Karacho vor,
       Bohrtürme stürzen ein, die Krieger eines abtrünnigen Apachenstamms reiten
       unter Kriegsgeheul hinter dem Rücken der Zuschauer vorbei, wo extra für
       diesen Zweck ein Weg entlangführt. Der Sound ist ohrenbetäubend, es gibt
       Explosionen, Kämpfe Mann gegen Mann, aber auch einen durchgeknallten
       Kantor, der mit seiner tragbaren Orgel reist.
       
       Einmal sagt der abtrünnige Apachen-Häuptling, der Winnetou in den Rücken
       fällt, er wolle keinen Frieden, denn die Weißen würden die Völker der
       Apachen vernichten. „Das stimmt doch auch“, murmelt eine junge Frau hinter
       mir.
       
       ## Der Diskurs
       
       Karl May träumte von Frieden und Völkerverständigung, er wollte die
       Auslöschung der [4][First Nations] nicht wahrhaben. Doch die Geschichte ist
       so nicht gewesen, wie sie in seinen Büchern steht und wie sie bis heute auf
       den Karl-May-Bühnen gezeigt wird (es gibt etwa ein Dutzend, eine sogar in
       Tschechien).
       
       Im Prinzip ist das schon lange bekannt, Karl May war ja auch nie im Wilden
       Westen. Trotzdem hat der Ravensburger Verlag jetzt die Kinderbücher zum
       Film „Der junge Häuptling Winnetou“ [5][zurückgerufen]: weil sie ein
       „romantisierendes Bild mit vielen Klischees“ zeichneten. „Der Stoff ist
       weit entfernt von dem, wie es der indigenen Bevölkerung tatsächlich
       erging“, so der Verlag. Von „vielen negativen Rückmeldungen“ ist die Rede
       und dass „die Gefühle anderer verletzt“ worden seien.
       
       „Klischees“, „romantisierendes Bild“: Das ließe sich auch den Bad
       Segeberger Karl-May-Spielen vorwerfen, die von Vorwürfen bisher weitgehend
       verschont blieben. Immerhin stellte das Hamburger Abendblatt diese Woche
       schon mal die bange Frage: „Sind Indianerspiele noch zeitgemäß?“
       
       Tja. Gute Frage.
       
       28 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Das-Kalkbergstadion-Von-der-NS-Staette-zum-Karl-May-Theater,kalkberg103.html
   DIR [2] https://geschichte-s-h.de/sh-von-a-bis-z/k/karl-may-spiele/
   DIR [3] https://www.karl-may-spiele.de/65-wilde-jahre/wie-alles-begann
   DIR [4] /First-Nations/!t5608342
   DIR [5] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-junge-winnetou-sind-film-und-buch-rassistisch-18261735.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Wiese
       
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