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       # taz.de -- Ausstellung über Otl Aicher in Berlin: Neustart in Weißblau
       
       > Ein demokratisches Design für die junge BRD: Das sah Otl Aicher als seine
       > Aufgabe. Er prägte damit die Ästhetik der Olympischen Spiele München
       > 1972.
       
   IMG Bild: Otl Aicher, Richtlinien und Normen für die visuelle Gestaltung, Olympia-Waldi, München 1972
       
       Großschrift oder Kleinbuchstaben: Für Otl Aicher waren scheinbar
       nebensächliche Schreibweisen politisch, 1988 veröffentlichte er mit
       „typographien“ ein Essay, das sich eingehend mit diesem noch heute
       kontrovers diskutierten Thema auseinandergesetzt hat. Kleinschreibung hatte
       für ihn mehr als nur Symbolcharakter. Buchstaben, genauso wie
       Farbmischungen, Logos und Piktogramme beschäftigten den Gestalter, der in
       diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, zeitlebens.
       
       Otl Aicher gilt als Pionier des demokratischen Designs in der jungen
       Bundesrepublik. Paradigmatisch sind etwa seine Arbeiten für den
       Fernsehsender ZDF und die Sommerolympiade von München 1972, deren
       Erscheinungsbild Aicher auf allen Ebenen geprägt hat. Der Beginn der
       „Spiele von München“ jährt sich dieser Tage zum 50. Mal.
       
       Im [1][Berliner Bröhan-Museum] ist nun eine Schau zu sehen, die Aichers
       immensen Gestaltungswillen in der bayerischen Landeshauptstadt anschaulich
       macht und in Erinnerung ruft, dass er einmal über Fachkreise hinaus für
       sein Werk berühmt war. Während Aichers leichte, klar durchdachte
       Designkonzepte unter Gestalter:Innen geradezu Kult sind, ist sein
       lebensphilosophischer Ansatz, speziell das, was er aus idealistischem
       Antrieb nach 1945 für eine antifaschistische Re-Education in
       Westdeutschland geleistet hat, seit seinem Tod 1992 in Vergessenheit
       geraten. Dabei kann man seinen progressiven Geist gar nicht oft genug
       nennen.
       
       Überschattet ist die Sommerolympiade in München für alle Zeit vom brutalen
       Anschlag auf das israelische Ringer-Team. Die palästinensische
       Terrororganisation Schwarzer September nahm die jüdischen Olympioniken als
       Geiseln, elf Athleten und ein Polizist wurden von ihnen ermordet.
       
       Die deutsche Linke hat sich lange Zeit schwer getan mit der Einordnung und
       Verurteilung dieser Gewalttat. Die Stadt München und die Bundesrepublik
       sind bis heute eine angemessene Entschädigungszahlung für die Angehörigen
       der Opfer schuldig geblieben, ein Erinnerungsort liegt eher versteckt in
       der Stadt. In der Ausstellung ist zentral eine große schwarze Tafel mit
       allen Namen der Ermordeten als Mahnung angebracht.
       
       ## Ein stadtplanerischer Schub für München
       
       Die Stadt München, die [2][nach Niederschlagung der Räterepublik 1919] zur
       reaktionären und ultrarechten „Ordnungszelle Bayern“ verdonnert wurde und
       sich nach 1945 eher mühsam der einstigen Liberalitas Bavariae entsann, war
       provinziell geworden. Sie bekam durch die Ausrichtung der Olympischen
       Spiele einen stadtplanerischen Schub: Das olympische Dorf und das
       Pressezentrum wurden als neue Stadtviertel konzipiert, deren
       ÖPNV-Haltestellen noch heute „Olympiazentrum“ und „Pressestadt“ heißen.
       
       Vom Nationalen Olympischen Komitee direkt damit beauftragt, nahm Otl Aicher
       sich der Herkulesaufgabe für die visuelle Gestaltung an, ab der Bekanntgabe
       Münchens als Ausrichtungsort der Spiele 1966. Ihr Erscheinungsbild war von
       Anfang an als [3][Gegenentwurf zur Olympiade 1936] gedacht. Statt des
       Gigantismus der Nazibauten in Berlin, mit Fackelsäulen, hermetischen
       Tribünenkonstruktionen und einer blutroten Fahnenwucht, wurden für München,
       einstmalige „Stadt der Bewegung“, beschwingte Architektur und
       Landschaftsgestaltung 1972 mit der leichten Designsprache in eins gesetzt.
       
       Aicher wollte maximale Transparenz vermitteln und über die gesamte
       ästhetische Erscheinung der Spiele eine „heitere Offenheit“ der
       demokratisch gesinnten Bundesrepublik suggerieren.
       
       Das Olympiagelände entstand auf dem Areal des ehemaligen, in der NS-Zeit
       genutzten Flughafens Oberwiesenfeld am nördlichen Stadtrand. Analog zu den
       Olympischen Spielen wurde die U-Bahn für die Millionenstadt realisiert,
       farblich und symbolisch mit Aichers Olympia-Design abgestimmt.
       
       ## Echo der Landschaft
       
       Das [4][Architekturbüro von Günter Behnisch], gemeinsam mit seinem
       [5][visionären Ingenieur Frei Otto] (der später posthum mit dem
       internationalen Pritzker Prize geehrt werden sollte) und der
       Landschaftsplaner Günther Grzimek legten die Schwimmhalle, Radbahn, Stadion
       und Turnhalle in einem sanft geschwungenen Park mit breiten Fußgängerwegen
       und großem See an. Frei Ottos geradezu schwebende Zeltdachkonstruktion und
       die terrassierten Etagenhäuser des Athletendorfs mit ihren hängenden
       Balkonen greifen die unebene Gestaltung des Olympiageländes auf, das sich
       an der moränenartigen Hügellandschaft der Voralpenregion orientiert.
       
       Zusammen mit dem wie eine Mohnblume aussehenden Olympiaturm – als weithin
       sichtbares Wahrzeichen – entstand so ein Gesamtkunstwerk aus Design,
       (Landschafts-)Architektur und Ingenieurstechnik. Der Stadtplaner und
       Architekt Werner Ruhnau erarbeitete zudem eine „Olympische Spielstraße“.
       Begleitend zu den Wettkämpfen stellten dann im Olympiapark bildende
       Künstler:Innen aus, die Krautrockband Faust und der
       [6][Velvet-Underground-Buddy Tony Conrad] traten live in München auf.
       
       Otl Aicher unterstrich schon in der Farbgebung und der Emblematik eine
       Abkehr von der Hakenkreuz-Vergangenheit: Ein sanftes Orange und ein lichtes
       Blau, Letzteres inspiriert vom weißblauen Himmel über München, betonen als
       zentrale Farben den friedlichen Charakter der Sportwettkämpfe. Das
       offizielle Olympia-Logo ist eine Strahlenspirale, in der man bei genauem
       Hinsehen auch die ineinandergeschobenen olympischen Ringe erkennt.
       
       Kleine Details machen den Unterschied: Aicher änderte die Anordnung der
       fünf olympischen Ringe, rückte den gelben, links unten, näher an die
       anderen und verkleinerte den zentralen schwarzen Ring, um auch optisch mehr
       Gleichheit unter den fünf Kontinenten herzustellen.
       
       ## Ein Dackel namens Waldi
       
       Aus Aichers Büro kam auch das Maskottchen der Spiele. Entworfen von seiner
       Mitarbeiterin Elena Winschermann war der dünne und langgezogene Dackel
       namens Waldi ein Wink sowohl an Weltoffenheit als auch an skurrile
       bayerische Kultur. In helles Grün getauchte Poster und Piktogramme für alle
       Sportarten, von Sportfotografie inspiriert, nahmen Fairness, Schnelligkeit
       und Wendigkeit von Athlet:Innen auf, ohne ihre Muskelkraft
       hervorzukehren. Diese Zeichensprache war allgemein verständlich, im
       Stadtraum sofort verortbar und völkerverbindend zu verstehen.
       
       Die Piktogramme der Sportarten sind noch heute etwa in Sportsendungen und
       Turnhallen zu sehen. Selbst Hostessen, Linienrichter, sogar die Polizei
       bekamen eigene orange, gelbe und hellblaue Kostüme und Uniformen
       geschneidert. Aicher war jedwede martialische Inszenierung von Staatsmacht
       zuwider.
       
       ## Desertiert und versteckt
       
       Der gebürtige Schwabe wurde bereits als Jugendlicher in der NS-Zeit 1937
       aufgrund seiner Zugehörigkeit zur oppositionellen Bündischen Jugend
       inhaftiert. Auch danach weigerte er sich, der Hitlerjugend beizutreten,
       weshalb er nicht zum Abitur zugelassen wurde. 1942 zum Kriegsdienst
       eingezogen und in Frankreich und Russland mit der Wehrmacht eingesetzt,
       desertierte er 1945 und versteckte sich auf einem Bauernhof. Mit Inge
       Scholl, Schwester von Hans und Sophie Scholl, war Otl Aicher liiert und
       später verheiratet. Inge Scholls Initiative zur Gründung einer
       Volkshochschule in Ulm, 1947, unterstützte Aicher nach Kräften.
       
       Zusammen mit Max Bill forcierte das Paar dann die Gründung der Ulmer
       Hochschule für Gestaltung (HFG), die ab 1955 (inter)nationale Studierende
       aufnahm und bis heute, trotz ihrer frühen Schließung 1968, international
       Grundlagen der Designtheorie legte. Max Bill überzeugte Otl Aicher davon,
       dass die optische Umgestaltung auch das Gesellschaftsbild ändern kann,
       etwas, das auch bei der visuellen Gestaltung der Sommer-Olympiade in
       München 1972 zum Tragen kam.
       
       Aichers antihierarchisches Design und seine darin zum Ausdruck kommenden
       gesellschaftlichen Utopien wurden von den 68ern heftig und auch etwas
       blindwütig als zu kommerziell und zu staatstragend attackiert. Wenn die
       sich da mal nicht getäuscht haben.
       
       29 Aug 2022
       
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