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       # taz.de -- Ende des 9-Euro-Tickets: Umsonst und gut so
       
       > Hinter der Empörung über „Gratismentalität“ verbirgt sich ein Weltbild.
       > Menschen sollten zu der Forderung nach kostenloser Mobilität stehen.
       
   IMG Bild: Ein Regionalzug in der Nähe von Werheim: Wie wollen wir leben?
       
       Was bleibt vom 9-Euro-Ticket? [1][Viel Gutes.] Aber auch eigenartige
       Wortmeldungen wie die von Finanzminister Christian Lindner (FDP). Von
       „Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen“ sei er im
       öffentlichen Nahverkehr nicht überzeugt, [2][sagte der bekanntlich]. Viele
       empörten sich darüber. So ein Satz von so einem Mann, der selbst auf Kosten
       von Steuerzahler:innen durch das Land fährt. Und überhaupt: Was ist
       eigentlich mit dem [3][Dienstwagenprivileg]? Auf den ersten Blick
       berechtigte Aufregung. Aber es hilft, sich über den ersten Reflex hinaus
       mit Lindners Vorwurf auseinanderzusetzen. Welches Weltbild steht dahinter?
       Und welches steht hinter der Empörung über Lindner?
       
       Man läuft durch die Stadt, es stehen Menschen vor einem Laden in einer
       Schlange und man fragt sich: Gibt es da etwas umsonst? Wer nicht den Impuls
       verspürt, zu dieser Schlange zu gehen und wenigstens einmal eine wartende
       Person zu fragen, worauf sie denn wartet, der lügt – oder dessen Leben
       gestaltet sich wegen zufällig glücklichen finanziellen Umständen längst
       postmateriell. Von den Normalsterblichen stellen sich dann manche
       tatsächlich hinten an. Andere neigen dazu, gegen den Impuls anzukämpfen:
       Auf gratis bin ich doch nicht angewiesen! Was ich brauche, kaufe ich mir
       mit dem Geld, für das ich gearbeitet habe! Ich bin doch kein Schnorrer!
       
       So gesehen offenbart die Diskussion über den unqualifizierten Einwurf
       Lindners im letzten 9-Euro-Ticket-Monat nicht nur dessen Weltbild, sondern
       auch jenes hinter der Empörung über ihn. Wieso fühlen sich Menschen von dem
       Ausdruck „Gratismentalität“ beleidigt? Wieso sagen sie nicht selbstbewusst:
       Ja, genau, gratis soll Mobilität für alle sein und das ist auch gut so!
       Weil es eine politische Lager übergreifende, alltäglich praktizierte und
       als naturgegeben empfundene Überzeugung ist, dass alles einen Preis hat,
       auch die Erfüllung menschlichster Bedürfnisse: Mobilität, Nahrungsmittel
       und Wohnraum sind nun mal Waren, die man sich durch Lohnarbeit erst einmal
       verdienen muss.
       
       ## Akute Symptome
       
       Dass dieses Konzept kein unveränderliches Naturphänomen ist, sieht man auch
       an seiner Dysfunktionalität: Viele Menschen arbeiten und können ihre
       Grundbedürfnisse trotzdem nicht oder nicht ausreichend befriedigen. Das ist
       nicht erst seit der gegenwärtigen Energie- und Preiskrise so – aber [4][in
       der Krise werden die Symptome akuter] und dadurch sichtbarer.
       
       Bei politischen „Experimenten“, wie das 9-Euro-Ticket gerne bezeichnet
       wird, wobei das Wort „Experiment“ die Distanz des Sprechers zur Idee
       unterstreichen soll, geht es deshalb um mehr als [5][einen klimapolitischen
       Anreiz] oder eine punktuelle finanzielle Entlastung. Auch wenn die Folgen
       noch nicht sichtbar sind – die Diskussion über das „Experiment“ wirkt sich
       jetzt schon auf die umkämpfte Frage aus, in welcher Gesellschaft wir
       eigentlich leben wollen.
       
       1 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ende-des-9-Euro-Tickets/!5875142
   DIR [2] https://www.rnd.de/politik/christian-lindner-scharfe-kritik-an-gratismentalitaet-bei-9-euro-ticket-ERE4NURBPVGOLLVXN5URVSKTVE.html
   DIR [3] /Die-Zukunft-des-OePNV/!5865587
   DIR [4] /Forderungen-nach-laengeren-Arbeitszeiten/!5867465
   DIR [5] /Auslaufendes-9-Euro-Ticket/!5874560
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Ağar
       
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