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       # taz.de -- Exponat im Museum Schwedenspeicher: Die flüchtige Leiche
       
       > Im Museum Schwedenspeicher in Stade wird seit Jahrzehnten eine Moorleiche
       > ausgestellt. Doch nun liegt da nur noch ein Skalp. Eine Spurensuche.
       
   IMG Bild: Von dem Toten aus dem Moor ist fast nichts mehr übrig
       
       ## Die Erinnerung
       
       Die Leiche ist grässlich. Die Gesichtshaut ledrig, die Haare, einst
       rötlich-blond, sind noch gut erhalten. Sie trägt braune Lumpen und liegt in
       einem Sarg aus Glas. Meine Erinnerungen an die Moorleiche aus dem Museum
       Schwedenspeicher in Stade sind ein wenig verschwommen, aber die Gänsehaut
       auf dem Rücken kann ich auch gut 25 Jahre nach der Exkursion im
       Sachunterricht noch fühlen. Waren da nicht sogar Hände mit langen,
       knorrigen Fingern? Zeit, um der Moorleiche mal wieder einen Besuch
       abzustatten.
       
       ## Der Ort
       
       [1][Der Schwedenspeicher steht am historischen Fischmarkt] in Stade. Der
       große Backsteinbau mit schiefen Außenwänden und grünen Fensterläden ist ein
       Relikt der Schwedenzeit. Als die in der Region das Sagen hatten, machten
       sie Stade zu ihrem Verwaltungssitz. Den Speicher bauten sie 1705, um
       Proviant für ihre Soldaten zu lagern. In den 1960er-Jahren war das Gebäude
       ziemlich marode und sollte abgerissen werden. Stattdessen wurde ein
       Regionalmuseum daraus.
       
       ## Der Besuch
       
       Gespannt steige ich in den zweiten Stock. Der Muff ist raus! Mit dem Besuch
       in meiner Grundschulzeit, als ich – wie wohl alle Schüler:innen des
       Landkreises – durch diese Räume mit niedrigen Deckenbalken gescheucht
       wurde, hat das Museum nichts mehr gemein. Vor einigen Jahren wurde es für
       3,6 Millionen Euro umgestaltet. Die Schätze und Funde aus dem
       Elbe-Weser-Raum, Fibeln, Bronzefiguren oder Steinkeile, werden hübsch
       angestrahlt in Glaswürfeln präsentiert. Es gibt interaktive Stationen und
       staubig ist es auch nicht. Doch dann kommt der Schock: Von der Moorleiche
       ist nur noch der Skalp übrig! Ein Stück Kopfhaut mit welligem Haar liegt
       neben einer Stoffrolle mit Gipsfüßen in zerschlissenen Sandalen. Wo ist der
       Rest der Moorleiche?
       
       ## Die Geschichte
       
       Ein Mitarbeiter an der Kasse weiß mehr. Angeblich. Die Moorleiche sei vor
       ein paar Jahren „nach Hannover“ ausgeliehen worden. „Die haben sie falsch
       gelagert.“ Deshalb sei sie „zusammengefallen wie in einem Horrorfilm“. Der
       Schwedenspeicher habe nur ein Stück Kopfhaut zurückbekommen. Das wäre ja
       ein handfester Skandal. Diese Tölpel in Hannover!
       
       ## Das Opfer
       
       Jahrhundertelang wurde der Mann von Obenaltendorf in den Tiefen des
       Kehdinger Moores frisch gehalten. Dann, im Mai 1895, fand ihn ein
       Torfstecher, hielt den Körper für ein Tier und halbierte ihn mit dem Spaten
       – so die Überlieferung. Er muss einigermaßen schockiert gewesen sein, als
       er dann doch Haare und Kleidung entdeckte. Es gibt ein krisseliges
       Schwarz-Weiß-Foto, das das zerdrückte Gesicht der Leiche nach der
       Ausgrabung zeigt. [2][Der Mann hatte welliges Haar, Nase und Augenhöhlen
       sind erkennbar.] Er sieht aus wie jemand, der eine Viertklässlerin
       nachhaltig beeindrucken kann.
       
       ## Die Recherche
       
       Museumsdirektor Sebastian Möllers nimmt sich Zeit fürs Gespräch. Es stellen
       sich Dutzende Fragen: Welches Museum in Hannover hat’s verbockt? Gab’s
       Schadenersatz? Warum konnte nur ein Stück Kopfhaut gerettet werden? Möllers
       ist verdutzt. „Ausgeliehen?“ Nein, daran könne er sich nicht erinnern.
       Dafür sei die Moorleiche auch „nicht attraktiv genug“. Und dann fällt der
       Satz, der alles verändert: „Den Kopf hat es nie gegeben“, sagt Möllers. Vom
       Körper ganz zu schweigen. Mehr als das Stückchen Kopfhaut habe, wenn auch
       anders präsentiert, nie in dem Glassarg gelegen. „Es ist schon witzig, wie
       man solche Erinnerungen aufbaut.“ Er habe das schon öfter von
       Besucher:innen gehört.
       
       ## Die Bergung
       
       Bald nachdem der Torfstecher, dessen Namen heute niemand mehr kennt, den
       Mann im Moor gefunden hatte, erfuhr davon ein Lehrer mit Nachnamen Meyer
       aus Obenaltendorf, das im heutigen Landkreis Cuxhaven liegt. Er schrieb
       später, dass er den Wert des Fundes erkannt habe und sich allein an die
       Ausgrabung machte: tagelang. Was er schreibt, bestätigt die Version von
       Museumsdirektor Möllers. Meiner Erinnerung ist nicht zu trauen!
       
       Viel übrig geblieben ist von der Moorleiche wohl nicht: „Die Leiche war
       ebenso zerschnitten und verstreut, wie die Kleidungsstücke“, heißt es in
       den Aufzeichnungen von Lehrer Meyer. „Die Haut war bei jedem Körperteil
       heil und ganz, sie war zähe und fest, daß ich sie mit meinem scharfen
       Taschenmesser kaum schneiden konnte.“ Einzelteile also.
       
       ## Mumia
       
       Nicht nur den Hobby-Archäologen Meyer machte der Fund hellhörig. Auch die
       Apotheken aus der Region hatten laut Möllers großes Interesse am Mann aus
       dem Moor: Zerstoßene Mumien galten als Heilmittel gegen Krankheiten aller
       Art.
       
       ## Die Reste
       
       Ein Knie habe, eingelegt in Formalin, in der Moor-Versuchsstation in Bremen
       gestanden, sagt Möllers, wurde jedoch im Zweiten Weltkrieg zerstört. Ein
       Oberschenkel sei in Berlin verschollen. „Sie hatte ein schlimmes Schicksal,
       die Moorleiche.“ Der einzige Rest ist jener Skalp im zweiten Stock des
       Schwedenspeichers. Nicht einmal das Gesicht, das auf der Fotografie
       erkennbar war, hat es über die Zeit geschafft.
       
       ## Die Kostbarkeit
       
       Mit der Leiche barg Lehrer Meyer auch einen deckenförmigen Mantel, einen
       Kittel, eine Hose und Kniebinden. „Es hat sich herausgestellt, dass das
       römische Kleidung war“, sagt Möllers. „Das ist ein Indiz dafür, dass es
       [3][engen Kontakt von Germanen] aus dem Elbe-Weser-Raum mit Rom gab.“ So
       hätten sich Germanen als Söldner verdingt. Dass die Moorleiche nur so und
       nicht im Ganzen geborgen worden sei, sei natürlich schade, sagt Möllers.
       „Aber total spannend sind diese Textilien.“ Und sie sind, im Gegensatz zu
       der Moorleiche meiner Fantasie, echt im Schwedenspeicher zu sehen.
       
       16 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.museen-stade.de/schwedenspeicher
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Mann_von_Obenaltendorf#/media/Datei:Obenaltendorf_head.jpg
   DIR [3] /Ausstellung-ueber-Germanen/!5713072
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Maestro
       
       ## TAGS
       
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