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       # taz.de -- Reaktionen auf Gorbatschows Tod: Das große Versäumnis
       
       > Michail Gorbatschows Tod markiert Differenzen zwischen Ost und West.
       > Unterschiedliche historische Erfahrungen hatten im geeinten Europa keinen
       > Platz.
       
   IMG Bild: Michail Gorbatschow versuchte die Gewalt in Riga im Jahr 1991 zu rechtfertigen
       
       Vielleicht war ich 10 oder 11, als ich [1][Michail Gorbatschow] zum ersten
       Mal im Fernsehen sah. Soldaten aus Großbritannien und den USA waren damals
       bereits in den Irak einmarschiert. Und von da an sah ich den alten Mann mit
       dem Feuermal auf der Stirn, das mir irgendwie unheimlich war, immer öfter.
       Auch das Stöhnen in unserem Wohnzimmer wurde häufiger: Uff, er schon
       wieder.
       
       Was denken Sie über die Irak-Politik der USA, Herr Gorbatschow?, wurde er
       mal gefragt. Und Gorbatschow antwortete:„Wie kommen die sogenannten Hüter
       der Demokratie und Freiheit dazu, Völker mit anderer Geschichte, Religion
       und Tradition in solch ein Korsett zu quetschen?“
       
       Dass man den letzten Staatschef der Sowjetunion in Deutschland all die
       Jahre als politische Autorität anerkannte, die man in Krisenzeiten
       befragte, weil man sich Weisheit und Durchblick erhoffte; dass Gorbatschow
       Anfang der Nullerjahre ernsthaft behauptete, es seien allein die USA, die
       glaubten, dass die Probleme der heutigen Zeit nur mit militärischen Mitteln
       zu lösen seinen; ein Mann, der in den Neunzigern selbst zu militärischen
       Mitteln gegriffen hatte gegen Menschen, die für ihre Freiheit von der
       Sowjetmacht kämpften – dass all dies keine Rolle spielte, sagt sehr viel
       über die Deutschen und ihr teils [2][romantisches Verhältnis zu russischen
       Staatsmännern] aus.
       
       Jetzt, da [3][Gorbatschow im Alter von 91 Jahren gestorben ist], in einem
       Jahr, in dem Russland einen erweiterten Krieg gegen die Ukraine führt,
       bekommen die Erfahrungen osteuropäischer Länder erstmals Gehör. In den
       baltischen Ländern wird Gorbatschows Vermächtnis immer auch bitter in
       Erinnerung bleiben. Die von ihm angestoßenen Reformen eröffneten zwar Ende
       der Achtzigerjahre einen Weg der Veränderung. Doch in entscheidenden
       Momenten urteilte Gorbatschow, dass dieser Weg nicht für alle gleichermaßen
       vorgesehen war. Freiheitskämpfen der Balten begegnete er mit Gewalt. Dabei
       war eine Welt ohne Gewalt seine Vision, wie er 1987 in seinem Buch
       „Perestroika“ geschrieben hatte.
       
       ## Militär gegen Freiheitsbewegung
       
       Die Unabhängigkeitsbewegung in [4][Litauen] ließ er am 13. Januar 1991
       blutig niederschlagen. 14 friedlich protestierende Litauer kamen dabei ums
       Leben, manche von ihnen wurden einfach von sowjetischen Panzern überrollt.
       Nicht umsonst ist dieser Tag in die Geschichte als Blutsonntag von Vilnius
       eingegangen. Zuvor hatten sowjetische Spezialeinheiten nicht nur das
       Rundfunk- und Fernsehgebäude, sondern auch einen Sendemast besetzt. Dann
       wurden Telefonleitungen ins Ausland gekappt.
       
       Das Land war von der Außenwelt abgeschnitten. So sollte Litauen dazu
       gedrängt werden, die Souveränitätserklärung vom 11. März 1990, die es als
       erste Sowjetrepublik beschlossen hatte, rückgängig zu machen. Gorbatschow
       stellte ein Ultimatum: Litauen sollte auf seine Unabhängigkeit verzichten
       und die sowjetische Verfassung anerkennen. Ähnlich ist er in Riga, in
       Tiflis vorgegangen.
       
       Die Deutschen liebten ihren Gorbi bis zuletzt. Über den widersprüchlichen
       Staatsmann, über die dunklen Kapitel seiner Amtszeit wurde geschwiegen.
       Oder noch schlimmer: Man interessierte sich nicht dafür.
       
       ## Nach Osteuropa blicken
       
       Diese unterschiedlichen historischen Erfahrungen fanden im geeinten Europa
       nie einen Platz. Wenn friedensbewegte Promis heute die Ukraine in einem
       offenen Brief adressieren, doch endlich den Krieg zu beenden, indem sie
       sich ergeben, oder wenn die Befreiung von sowjetischen Denkmälern in den
       baltischen Staaten als radikal empfunden wird, dann zeigt sich dieses große
       Versäumnis sehr deutlich.
       
       Wer Europa heute begreifen möchte, muss in den Osten blicken und sich die
       Erfahrungen Polens, der Ukraine, der Balten, Georgiens, Moldaus und all der
       anderen anhören. Es gibt noch viel aufzuholen. Und wir sind erst am Anfang.
       
       2 Sep 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Erica Zingher
       
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