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       # taz.de -- Klimabewegung und Antisemitismus: Fürs Klima – und gegen Israel?
       
       > Einige KlimaaktivistInnen verbinden die Erderwärmung mit dem
       > Nahost-Konflikt. Dabei überschreiten sie die Grenze zum Antisemitismus.
       
   IMG Bild: Wegen antisemitischer Äußerungen umstritten: Roger Hallam, Mitgründer von Extinction Rebellion
       
       Berlin taz | Was hat der Nahost-Konflikt mit der Klimakrise zu tun? Auf den
       ersten Blick nicht viel: Das eine ist eine menschengemachter geopolitische
       Auseinandersetzung, das andere eine menschengemachte, globale Veränderung
       des Klimas.
       
       Für die Jugendorganisation „Revolution“ gehört dennoch beides zusammen:
       „Von Hamburg bis nach Gaza – Klimaintifada“, so moderierte die linke Gruppe
       auf Instagram ein geplantes [1][Klima-Protestcamp] im August an. „Auch wir
       wollen uns wieder daran beteiligen, doch sehen nach wie vor, dass die
       Umweltbewegung wichtige Schritte verpasst zu gehen um sich dem System
       effektiv in den Weg zu stellen und so unsere Lebensgrundlage zu retten“,
       schrieb „Revolution“.
       
       Die Gruppe setzt, wie etwa auch das Bündnis [2][Ende Gelände], auf mehr als
       nur Proteste und Blockaden. Nur: Was hat der Gazastreifen am westlichen
       Rand Israels damit zu tun? Und: Taugt die Bezeichnung für die gewalttätigen
       Aufstände von Palästinenser*innen gegen Israelis – „Intifada“ –
       wirklich für Klima-Aktivismus?
       
       Vielen in der Klimabewegung ging der Vergleich mit dem Nahost-Konflikt und
       die Verwendung des Begriffs „Intifada“ zu weit. Auf Nachfrage der
       Tageszeitung Welt distanzierten sich sowohl eine Sprecherin von Ende
       Gelände – die auch in Hamburg anwesend war – als auch Fridays for Future
       Hamburg von „Revolution“: Die Gruppe sei „nicht Teil des Bündnisses des
       System Change Camp“, man möchte mit ihren „sehr klar antisemitischen
       Äußerungen“ nicht in Verbindung gebracht werden.
       
       ## Zu Distanzierungen gezwungen
       
       Es ist nicht das erste Mal, dass sich deutsche Klimabewegungen zu
       solcherlei Distanzierungen gezwungen sehen. Eine diskursive Grenze zwischen
       den englischsprachigen Ablegern der Bewegungen und ihren deutschen Pendants
       ist dabei unübersehbar. Besonders eindrücklich zeigte sich das im Mai 2021.
       Unmittelbar nachdem ein neuer Gaza-Krieg zwischen Israel und der
       Terrororganisation Hamas entflammt war, verfasste die Dachorganisation von
       Fridays for Future ein längeres Statement.
       
       Unter dem Titel „Warum schreibt eine Gruppe für Klimagerechtigkeit über
       Palästina?“ fand sich unter anderem folgende Passage: „Als Organisatoren
       der Klimagerechtigkeit rufen wir zum Sturz jenes Systems auf, das
       entrechtete Communitys geschaffen hat, das die Klimakrise hervorgebracht
       hat und das auf Kolonialismus und Imperialismus aufgebaut ist.“ Damit war
       vor allem Israel gemeint. Dies zeigte eine dazu veröffentlichte Karte des
       Nahen Ostens.
       
       „Die Verbindung zwischen einem Volk und einem Land geht über politische
       Motive hinaus“, hieß es weiter. „Unser Mitgefühl gilt allen Märtyrern und
       Toten. Die Gewalt und der Verlust von Menschenleben sind eine Tragödie, und
       ihr Blut wird nicht vergessen werden.“ Eine allenfalls ungewöhnliche, wenn
       nicht politisch schwierige Aussage: Miro Dittrich, der Mitgründer des
       Thinktanks CeMAS, der sich laut Eigenwerbung mit „Verschwörungsideologien,
       Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus“ beschäftigt, nannte
       das im Frühjahr 2021 so: „Fridays for Future ist jetzt bei Blut und Boden
       angekommen.“
       
       ## „Extrem einseitig anti-israelisch“
       
       Die Aussagen veranlassten Fridays for Future Deutschland und FFF-Frontfrau
       Luisa Neubauer persönlich damals zu einer Distanzierung. Der
       Antisemitismusbeauftragte der baden-württembergischen Landesregierung,
       Michael Blume, begrüßte das. Im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen
       bezeichnete er die Aussagen als „extrem einseitig anti-israelisch“ und
       meinte, sie enthielten „viel Antisemitismus“.
       
       Wie hält es die Klimabewegung nun mit dem Israel-Palästina-Konflikt, und
       warum ist dieser für ihr Anliegen offenbar so wichtig? Der Journalist
       Nicholas Potter hat sich anlässlich des Vorfalls bei Fridays for Future im
       vergangenen Jahr mit dem Thema Antisemitismus in der Klimabewegung
       beschäftigt. Unter anderem schrieb er eine Analyse auf dem
       Nachrichtenportal der demokratiefördernden Amadeu Antonio Stiftung, für die
       er arbeitet.
       
       Die Tendenz, den Nahost-Konflikt in andere aktivistische Felder
       miteinzubeziehen, gebe es nicht nur bei der Klimabewegung, sagt er der taz:
       „‚Climate justice means justice for Palestine‘, das ist genau so verkürzt
       wie ‚Palestine is a queer issue‘“, betont Potter.
       
       Seiner Ansicht nach münden die Versuche vieler Klimagruppen, die Ausbeutung
       des Planeten als ganzheitliche, systemische Krise zu verstehen, beinahe
       zwangsläufig im Nahost-Konflikt: „Die Klimabewegung teilt die Welt auf in
       den globalen Norden und den globalen Süden“, so Potter. „Zu Recht, finde
       ich. Der globale Norden ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass wir diese
       Krise haben und der globale Süden leidet maßgeblich darunter.“
       
       ## „Gewalt durch neokoloniale Ausbeutung“
       
       Auf Ende Gelände scheint diese Weltsicht zuzutreffen: „Im Globalen Süden
       erleben Menschen tagtäglich die Gewalt des fossilen Kapitalismus, von dem
       wir im reichen Norden profitieren“, lautet etwa ein jüngeres Statement.
       Weiter: „Es ist Gewalt durch die Konzerne der Industriestaaten, Gewalt
       durch neokoloniale Ausbeutung von Menschen und Ressourcen, durch Landnahme
       und Vertreibung.“ In dieser Logik, so Potter, stellten sich die
       Palästinenser*innen als Teil des globalen Südens und Israelis als
       Teil des globalen Nordens dar, „und das führt zu einer Solidarisierung mit
       Palästina und zur Abwehr gegenüber Israel“.
       
       Gleichzeitig beobachtet der Publizist, wie die [3][Israel-Boykottbewegung
       BDS] zunehmend versucht, Fuß in Klimabewegungen zu fassen. Die Kampagne BDS
       (Boycott, Divestment and Sanctions) möchte nach eigenen Angaben mit einem
       Warenboykott für Produkte aus israelischen Siedlungsgebieten Protest gegen
       die Politik des Nahoststaates zum Ausdruck bringen. Jüngst konzentrierte
       sich die Bewegung aber auch auf kulturelle Boykotte, etwa, indem sie
       Künstler*innen zur Absage von Konzerten in Israel drängte.
       
       Auf der offiziellen Homepage der BDS-Kampagne finden sich zahlreiche
       Beiträge zur Klimagerechtigkeit. Unter anderem gibt die Bewegung zu
       verstehen, dass die Klimakrise Palästinenser*innen „unverhältnismäßig
       stark“ betreffe und dass der Staat Israel mit seinen Klimaschutzbemühungen
       „Greenwashing“ betreibe. Während der Bundestag die BDS-Kampagne erst 2019
       in einer Resolution als antisemitisch verurteilte, hat die Bewegung vor
       allem in den USA und Großbritannien einen größeren Einfluss und prominente
       Unterstützer*innen.
       
       Generell scheinen Positionierungen von Klimabewegungen zum Nahost-Konflikt
       im Ausland nicht so sehr zu irritieren wie hierzulande – mit einer
       Ausnahme. 2019 erregte die Aussage eines prominenten Klimaaktivisten
       Aufsehen: [4][Roger Hallam], Mitgründer der Klimagruppe Extinction
       Rebellion, bestritt in einem Interview mit der Zeit die Singularität des
       Holocaust und bezeichnete den Genozid als „fast normales Ereignis“ im
       Lichte vieler anderer Völkermorde der Geschichte. Der Ullstein-Verlag
       stoppte daraufhin die Auslieferung seines Buches, und der deutsche Ableger
       von Extinction Rebellion distanzierte sich von den Aussagen.
       
       ## Provokationen, um Aufmerksamkeit zu schaffen
       
       „Das sind gezielte Provokationen, um Aufmerksamkeit zu schaffen“, sagt
       Nicholas Potter. „Man hat das Gefühl, die Zeit läuft und man muss jetzt
       radikal und dramatisch agieren, damit dieses Thema beachtet wird. Und dann
       kommt es immer wieder zu Antisemitismus.“
       
       Dennoch hält der Journalist die Klimabewegung für „nicht antisemitischer
       als andere soziale Bewegungen.“ „Vor allem Fridays for Future ist noch eine
       sehr junge Bewegung“, betont Potter. „Dort gibt es keine tiefen Analysen zu
       Nahost, Israel, Antisemitismus. Es geht um verkürzte Sharepics und
       Hashtags.“
       
       5 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aktionwoche-von-Ende-Gelaende-in-Hamburg/!5870695
   DIR [2] /Schwerpunkt-Ende-Gelaende/!t5221778
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       ## AUTOREN
       
   DIR Konstantin Nowotny
       
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