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       # taz.de -- Frauen in Afghanistan: Kein Weg vorbei
       
       > Ein kompletter Boykott der Taliban würde den Frauen schaden. Wer den
       > Afghaninnen helfen will, muss pragmatisch vorgehen.
       
   IMG Bild: Afghaninnen warten in Kabul auf Lebensmittelspenden aus Saudi-Arabien, April 2022
       
       Joe Bidens Rede zum Afghanistanabzug klang nüchtern. Am 31. August 2021
       erklärte der US-amerikanische Präsident, dass der Einsatz eigentlich immer
       al-Qaida, nicht aber den Taliban gegolten habe. Al-Qaida hätte man besiegt,
       es wäre also Zeit, aus Afghanistan abzuziehen. Zwar hatte Biden kein
       „Mission Accomplished“-Banner hinter sich hängen, wie damals George W. Bush
       bei seiner Irakrede, die Andeutung stand dennoch im Raum.
       
       Anders als behauptet, ging es beim Afghanistaneinsatz nie wirklich um die
       Befreiung der Frau. In ihrem Text „[1][Frauen statt Taliban]“ stellt die
       Soziologin Edit Schlaffer fest, dass Afghaninnen seit Jahrzehnten
       missbraucht werden, um Herrschaftsansprüche im Land zu legitimieren.
       Tatsächlich zierten Bilder leidender Afghaninnen, umrahmt von tiefblauen
       Burkas, seit dem 11. September 2001 immer wieder Magazincover, um zu
       zeigen: Der Westen muss diese Frauen befreien.
       
       Mit dem Narrativ der Frauenbefreiung wurden auch Kriegsverbrechen
       gerechtfertigt. Drohnenangriffe auf Hochzeitsgesellschaften, das Erschießen
       unbewaffneter Zivilisten durch Spezialeinheiten und Foltergefängnisse
       gehören zum Erbe des „Kriegs gegen den Terror“. Bereits 2001 warnte die
       amerikanisch-afghanische Frauenrechtlerin Rina Amiri davor,
       Terrorbekämpfung mit dem Kampf für Frauenrechte zu vermischen. Man würde
       Frauen vor Ort einen Bärendienst erweisen. Amiri sollte recht behalten.
       
       Heute assoziieren viele Afghanen das Wort Frauenrechte mit Krieg und
       Gewalt. Dabei würden mehr Frauenrechte die afghanische Gesellschaft nicht
       zerstören, sondern voranbringen. So paradox es klingt, ist diese einfache
       Wahrheit offenbar nicht nur vielen Taliban neu. Auch im Westen kann man
       diesbezüglich noch einiges dazulernen.
       
       ## Die Taliban kontrollieren den Tisch
       
       Während die Taliban verstehen müssen, dass es dem Land nur besser gehen
       kann, wenn es auch den Frauen besser geht, muss man im Westen lernen, dass
       es den Frauen nur besser gehen kann, wenn es auch dem Land besser geht. Man
       darf die Frauen nicht gegen den Rest der afghanischen Gesellschaft
       ausspielen. Das aber geschah in den letzten zwanzig Jahren zu häufig.
       
       Obwohl Edit Schlaffer in ihrem Text gegen die Instrumentalisierung von
       Frauen argumentiert, fordert sie am Ende doch Ähnliches: „Frauen statt
       Taliban“. Schlaffer erklärt, dass afghanische Frauen vom Westen ignoriert
       würden. Man müsse ihre „geheimen Kanäle“ für den „Widerstand“ nutzen – wie
       das passieren soll, schreibt sie nicht.
       
       Extremisten dürfen durch Verhandlungen nicht gestärkt werden. Im Fall von
       Afghanistan ist es jedoch zu spät, denn die Taliban muss man nicht an den
       Tisch holen: sie kontrollieren ihn bereits. Auch stimmt nicht, dass die
       internationale Gemeinschaft Exilafghaninnen ignoriert. Tatsächlich haben
       einige von ihnen gute Verbindungen zu westlichen Institutionen.
       
       So berichtete jüngst der Guardian, wie sechs einflussreiche afghanische
       Frauen, darunter die [2][Politikerin Fausia Kufi], weiterhin die Geschicke
       das Landes lenken. Dabei ist Kufi umstritten. Ihr werden seit Jahren
       Korruption und Verbindungen zu mafiösen Drogenhändlerringen vorgeworfen,
       auch von RAWA, der ältesten afghanischen Frauenorganisation. Solche
       Verbindungen zwischen Politik und organisiertem Verbrechen waren der
       Hauptgrund für den Zerfall der Republik.
       
       ## Warnung vor großer Hungersnot
       
       Auf Frauen wie Kufi zu setzen bedeutet, die alten Fehler zu wiederholen. Es
       ist nicht gelungen, einen funktionierenden afghanischen Staat zu schaffen.
       43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts stammten aus Entwicklungshilfegeldern.
       Als im August 2021 alle Zahlungen sofort stoppten, drehte man nicht nur den
       Taliban, sondern der afghanischen Bevölkerung das Geld ab.
       
       Das IRC (International Rescue Committee) warnt, dass eine
       [3][Hungerkatastrophe] mehr Menschenleben als die letzten zwanzig Jahre
       Krieg kosten könnte. Derzeit sorgt das Internationale Rote Kreuz dafür,
       dass das Gesundheitssystem nicht komplett zusammenbricht. Einfluss im Land
       hat die Organisation nur, weil sie sich den Taliban gegenüber neutral
       verhält.
       
       Die Bemühungen der Organisation Women for Afghan Women, ihre Frauenhäuser
       nach der Machtübernahme offenzuhalten, sind auch daran gescheitert, dass
       man den Taliban durch Verhandlungen keine Legitimität verschaffen wollte.
       Plötzlich mussten schutzsuchende Frauen in gewalttätige Familien
       zurückgeschickt werden oder sie landeten auf der Straße. Dort, wo
       Frauenhäuser nicht geschlossen wurden, operieren sie teilweise auch unter
       den Taliban weiter.
       
       Je pragmatischer man mit den Taliban umgeht, desto mehr Frauenleben kann
       man retten. Edit Schlaffer hat Recht: Die Taliban sind keine monolithische
       Gruppe, gerade in Bezug auf Mädchenbildung. Vor wenigen Tagen hat in Kabul
       eine [4][Frauenbibliothek] eröffnet, die von den Taliban erst einmal
       geduldet wird. In ländlichen Regionen setzen sich sogar Dorfälteste immer
       mehr für das Recht der Mädchen auf Bildung ein.
       
       Die afghanische [5][Organisation Pen Path] dokumentiert diese Bemühungen,
       unterhält selbst ein von den Taliban geduldetes mobiles Schulsystem. Gerade
       weil es diese Schlupflöcher gibt, muss man die Kanäle zu den Taliban
       offenhalten. Schlaffers Vorschlag würde im schlimmsten Fall jedoch dazu
       führen, dass sich die Hardliner komplett durchsetzen. Mit den Taliban zu
       sprechen bedeutet nicht, ihr Regime als legitime Regierung anzuerkennen.
       
       Es macht einen großen Unterschied, ob man sie – wie in der Vergangenheit –
       im Kampf gegen den IS unterstützt oder mit ihnen über Entwicklungshilfe und
       die Wiederbelebung der afghanischen Zentralbank verhandelt. Was viele
       vergessen: die Taliban haben Alternativen. Bereits heute bemühen sich China
       und Russland, ihren Einfluss in Afghanistan zu festigen. Nachdem wir den
       Taliban das Land und die Leute überlassen haben, bleibt uns also nichts
       anderes übrig, als weiter mit ihnen zu reden. Das ist die bittere Bilanz
       des Kriegs.
       
       5 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Frauenrechte-in-Afghanistan/!5871619
   DIR [2] https://www.theguardian.com/global-development/2022/aug/25/afghan-women-exile-taliban-global-policy
   DIR [3] https://support.rescue.org/de/donatenow/~spenden?ms=gd_ppc_fy22_brand_displaybrand_demk_Nov&initialms=gd_ppc_fy22_brand_displaybrand_demk_Nov&utm_medium=display&utm_source=googledisplay&utm_campaign=fy22_brand&utm_content=displaybrand&gclid=Cj0KCQjwmdGYBhDRARIsABmSEeNjd1NZ9ar6YqSSYdC7O797brHw4vyCwyvx8-7KWJ64K2f7s4bRLCEaAgRbEALw_wcB
   DIR [4] https://www.dw.com/de/kabul-aktivistinnen-gr%C3%BCnden-frauen-bibliothek/a-62961184
   DIR [5] https://thekabultimes.gov.af/pen-path-setting-up-schools-libraries-to-support-education-in-afghanistan/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jasamin Ulfat
       
       ## TAGS
       
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