# taz.de -- Blicke in die Röhre
> Der Linienverzweiger in Lichtenberg ist womöglich die kleinste Galerie
> Berlins. Und ein Denkmal der Kommunikation
IMG Bild: Der Linienverzweiger am Tuchollaplatz mit einer Arbeit von Anselmo Fox
Von Michael Freerix
Ein Linienverzweiger? Wer kennt noch diesen Begriff? Ein Linienverzweiger
ist eine sechseckige, metallene Schaltzentrale, über die im frühen
Telefonwesen Vororte an das Telefonnetz angeschlossen wurden. Sie ist so
groß, dass darin eine Person sitzend arbeiten kann. Seit den 50er Jahren
wurde deren Aufgabe von Kabelverzweigern übernommen, grauen Kästen, die
häufig an Gehwegen stehen. Die metallenen Linienverzweiger mit ihren
formschönen Dächern wurden deshalb abgebaut.
Nur in Berlin blieb einer bis 1992 in Betrieb. Diesen entdeckte der
Architekt Thomas Lang während eines Spaziergangs in der Nähe des
Ostkreuzes. Damals war er hauptsächlich mit der Sanierung von Altbauten
beschäftigt. Schnell wurde ihm klar, dass er dieses Artefakt aus der
Vergangenheit in ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum verwandeln wollte.
Gelder für Restauration und Umbau des Gehäuses wurden beschafft – und eine
Metallbaufirma gefunden, die sich dieser Aufgabe annahm.
In drei der sechs Türen wurden Glasscheiben eingesetzt, sodass sich der
Baukörper nach außen hin öffnet. Einsehbar ist nun der Innenraum mit seinem
originalen Arbeitsschemel der „Oberpostdirektion Berlin“ und die
Schaltleisten, um künstlerische Ideen anzuregen. Für nächtliche Beleuchtung
wurden Solarpaneele auf das Dach montiert. Als neuen Standort wählte Lang
den Tuchollaplatz in Lichtenberg, um ein Bewusstsein in diesem städtischen
Raum für die irritierende, interaktive und motivierende Möglichkeit der
Kunst zu schaffen.
Dort steht das Stadtmöbel Linienverzweiger seit nun 20 Jahren auf einer
Ecke des Platzes und ist Vitrine, Galerie und Ausstellungsort für
künstlerische Inszenierungen in einem. Seither war er Ort für
Filmvorführungen, wurde als Theaterbühne oder Sendeplatz genutzt, war
Requisite, Schautafel, Magazin wie auch ein Ort der Anregung, um Künstler
aus dem Umfeld zu künstlerischen Projekten oder Lesungen im öffentlichen
Raum zu inspirieren.
Zurzeit kümmert sich die Architektin und Künstlerin Annette Erlenwein um
die künstlerische Nutzung des Linienverzweigers. Ursprünglich wollte
Erlenwein dessen Innenraum mit seinen knapp 2 qm in ein
Miniatur-Appartement verwandeln, „als ironischen Kommentar zur Idee des
‚Tiny Houses‘.“ Schnell entwickelte sich aus dieser Idee die einer ganzen
Ausstellungsreihe, in der die möglichen Dimensionen dieses sehr kleinen
Raumes erkundet werden.
Eröffnet wurde die Ausstellungsreihe im Juli mit einer Arbeit der
Mexikanerin Sandra Contreras. Sie fügte Fischernetze zu einer Installation
zusammen: die Fäden und Schnüre bildeten größere und kleiner Knoten und
standen symbolisch für den telekommunikativen Raum, der der
Linienverzweiger einmal gewesen ist.
Seit Anfang September bespielt der Schweizer Künstler Anselmo Fox den engen
Raum mit einer opulenten Arbeit aus übereinander geschichteten Papprollen
aus. Dieser runde, durch gebogene Formen gekennzeichnete Turm konterkariert
die sechseckige Grundkonstruktion des Linienverzweigers. „Die
Kommunikation,“ so sieht es Fox, „fand unterirdisch statt.“ Die alte
Schaltzentrale „repräsentiert eine Art Pilz, der aus dem Boden wuchert und
der die Kommunikation sichtbar macht.“
Durch die runden, aufeinander geschichteten Papprollen des geöffneten
Linienverzweigers lässt sich hindurch schauen. So entstehen Sichtachsen in
alle möglichen Richtungen. Sie repräsentieren die Kommunikationsbahnen, die
einst von dieser Schaltzentrale aus gingen.
Ganz anders gelagert ist die Arbeit des Bildhauers und Kuratoren Christof
Zwiener, der ab 23. September folgen wird. Der Niedersachse befasst sich
mit der Überlagerung von Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind
für ihn unmittelbar mit einem Gegenstand, einem Gebäude oder Ort verknüpft.
Ihm folgt ab dem 21. 10. die Münchnerin Annette Erlenwein mit ihrer oben
beschriebenen Einlassung zu den Tiny Houses.
Bis Dezember sind weitere Installationen geplant. Zuletzt wird der Bremer
Künstler und Kuratoren Uwe Jonas die Frage bearbeiten, was „öffentlicher“
und was „privater“ Raum ist. Ausstellungseröffnung ist jeweils um 19 Uhr.
Die Reihe soll im kommenden Jahr fortgesetzt werden.
Darüber hinaus arbeitet der Macher und Betreiber Thomas Lang daran, das der
Linienverzweiger, den man auch die kleinste Galerie Berlins nennen könnte,
in eine Liste mit technischen Denkmälern aufgenommen wird. Es wäre schön,
wenn dies bis 2023 klappt, weil dann der Linienverzweiger als Kulturort
sein 20-jähriges Bestehen auf dem Tuchollaplatz feiert.
6 Sep 2022
## AUTOREN
DIR Michael Freerix
## ARTIKEL ZUM THEMA