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       # taz.de -- Kinotipp der Woche: Keine Angst vor dem Alltag
       
       > Gisela Tuchtenhagen dokumentiert in ihren Filmen Arbeitsmigration, Frauen
       > in Männerberufen oder einfach nur Bingo. Zeit für eine Werkschau.
       
   IMG Bild: Szene aus „Sing, Iris – sing“ (BRD 1978, R: Monika Held, Gisela Tuchtenhagen)
       
       „Maria ist Spanierin, 13 Jahre alt, hat zwei Brüder und eine Schwester.
       Maria ist seit vier Jahren hier, geht zur Mittelschule, siebte Klasse.“ Mit
       deutlichem norddeutschen Sprachschlag stellt Regisseurin Gisela
       Tuchtenhagen die Protagonistin ihres kurzen Dokumentarfilms „Was ich von
       Maria weiß“ vor. Ihr Film ist eine Pionierarbeit in der Darstellung der
       Kinder von Arbeitsmigrant_innen, entstanden als Abschlussfilm zu ihrem
       Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).
       
       Skizzenhaft entfaltet Tuchtenhagen die Lebensumstände von Marias Familie,
       konzentriert sich dann aber auf das Leben von Maria: das Kümmern um die
       Geschwister, die nicht enden wollende Hausarbeit. Tuchtenhagen verdichtet
       das Leben auch visuell, indem sie Standfotos in den Film montiert. „Was ich
       von Maria weiß“ läuft am nächsten Mittwoch zur Eröffnung einer Werkschau
       mit Filmen Tuchtenhagens im Berliner Zeughauskino.
       
       Als Tuchtenhagen 1969 an die dffb kommt, ist sie ausgebildete Fotografin
       und beginnt schnell als Kamerafrau zu arbeiten, eine der wenigen der Zeit.
       Noch während des Studiums beginnt sie mit Klaus Wildenhahn
       zusammenzuarbeiten, damals Dozent an der dffb. Gemeinsam entsteht eine
       dreiteilige Spurensuche zum „Hamburger Aufstand Oktober 1923“ für den NDR.
       
       Tuchtenhagen macht die Kamera zu feministischen Filmen der Zeit wie
       Cristina Perinciolis „Für Frauen – 1. Kapitel“ und Helke Sanders „Macht die
       Pille frei?“. Ihre ersten eigenen Filme Anfang/Mitte der 1970er Jahre
       wirken unscheinbar, kreisen inmitten einer aufgeregten Zeit um „2 Pastoren
       und ein Vikar in Hamburg-Harburg“ und das Landleben in Norddeutschland.
       
       In dieser Zeit entsteht auch der zweite Film des Eröffnungsprogramms: „5
       Bemerkungen zum Dokumentarfilm“. Der Film beginnt mit den Arbeiten
       Wildenhahns für die Musikredaktion des NDR, arbeitet den Stand des
       deutschen Dokumentarfilms, seine Stellung im und Abhängigkeit vom deutschen
       Fernsehen heraus, führt Gespräche zu Techniken des Dokumentarischen, mit
       Redakteur_innen und erprobt Thesen zum Dokumentarfilm. „5 Bemerkungen“ ist
       Orientierungshilfe und Selbstverortung zugleich.
       
       ## Konzentriert auf das Leben
       
       Ende der 1970er Jahre folgt „Sing, Iris – sing“ ein Film über eine Gruppe
       arbeitsloser Frauen, die umschulen – auf „Männerberufe“. Mit großer
       Empathie zeigen Gisela Tuchtenhagen und Koregisseurin Monika Held den
       Alltag im Essener Berufsförderzentrum und öffnen den Film für Einblicke in
       die Lebensrealitäten der Frauen.
       
       Mitte der 1980er Jahre entsteht Tuchtenhagens umfangreichstes Filmprojekt
       „Heimkinder“ über Jugendliche in einem Pilotprojekt eines Hamburger
       Jugendheims. Gemeinsam mit Sozialarbeitern gehen die Jugendlichen auf
       Reise. „Heimkinder“ begleitet diese Reise in fünf Teilen.
       
       Die Filme Gisela Tuchtenhagens sind zutiefst empathisch und den Menschen
       zugewandt. Feministische Themen ziehen sich ebenso durch ihr Werk wie ein
       wiederkehrendes Interesse für die Lebensumstände, die Migration für Frauen
       mit sich bringt. Zugleich hat Tuchtenhagen keinerlei Berührungsängste mit
       der Trivialität des Alltags. Quinka Stoehrs Porträtfilm „Zuneigung“ zeigt
       Tuchtenhagen unter anderem beim Drehen auf einem Feuerwehrball, einer ihrer
       letzten Filme widmet sich dem [1][Bingo als Ausflugsziel einer Gruppe von
       Frauen] auf dem norddeutschen Land. Tuchtenhagens Werk verdient eine
       Wiederentdeckung, die [2][Werkschau im Zeughauskino] ist die Gelegenheit
       dazu.
       
       10 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Dokumentarfilmerin-Gisela-Tuchtenhagen/!5114708
   DIR [2] https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/dokumentarische-positionen-gisela-tuchtenhagen/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
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