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       # taz.de -- Verfassungsänderung in Chile: Es gibt noch Hoffnung
       
       > Den ersten Entwurf einer neuen Verfassung haben die Chilenen abgelehnt.
       > Aber die Abstimmung ist nur der Auftakt des verfassungsgebenden
       > Prozesses.
       
   IMG Bild: Ein Wahlhelfer zeigt eine ablehnende Stimme bei der Volksabstimmung in Chile am 4. September
       
       Das Ergebnis der Volksabstimmung in Chile zur vorgeschlagenen neuen
       Verfassung hat alle überrascht. Selbst die Gegner des Textes hätten nie
       gedacht, [1][dass das Ergebnis so klar sein würde]: Zwei von drei Wählern
       stimmten gegen den Entwurf.
       
       So endete ein Prozess – [2][oder wenigstens dessen erste Phase] -, der im
       Oktober 2019 mit einer der wichtigsten sozialen Bewegungen in der
       Geschichte Chiles begann. Das Land möge demokratischere Strukturen
       erhalten, war der Wunsch, denen mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit
       folgen sollten, um das neoliberale System zu beenden, das noch durch die
       Diktatur Augusto Pinochets geprägt war.
       
       Im Jahr 2020, ein Jahr nach den Protesten, stimmten fast 80 Prozent der
       chilenischen Wähler für eine Änderung der Verfassung, für die ein
       demokratisch gewählter Verfassungskonvent einen Entwurf erarbeiten sollte.
       Der Konvent setzte sich aus Repräsentanten unterschiedlicher
       gesellschaftlicher Gruppierungen zusammen, unter ihnen Feministinnen,
       Mitglieder der LGBTQ-Community, politisch Unabhängige und Indigene.
       
       Der vom Verfassungskonvent nach zwölfmonatiger Arbeit vorgeschlagene Text
       konnte die Mehrheit der Chilenen jedoch nicht überzeugen. Warum? Das ist
       eine Frage, die zu beantworten einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Man
       muss bedenken, dass der Vorschlag eine Reihe von einschneidenden
       strukturellen Veränderungen beinhaltete: Rechtsstaatlichkeit, die
       Entprivatisierung der Wasserversorgung, die Anerkennung der indigenen
       Völker, das Recht auf Abtreibung und die Gleichberechtigung von Männern und
       Frauen.
       
       ## Die Linke hat einige Fehler gemacht
       
       Doch es lassen sich bereits einige Faktoren erkennen, die das verheerende
       Ergebnis für die Unterstützer der Verfassungsänderung beeinflusst haben
       könnten.
       
       Zunächst einmal war das Plebiszit die erste Wahl seit zehn Jahren, für die
       eine Wahlpflicht galt. Und die Linke hat nicht verstanden, dass angesichts
       einer Pflicht, wählen zu gehen, die Wählerschaft für die Volksabstimmung
       nicht die gleiche sein würde wie jene, die vor einigen Monaten den linken,
       liberalen, grünen und feministischen Kandidaten Gabriel Boric ins
       Präsidentenamt gebracht hat.
       
       Zudem fällt es großen Teilen der Bevölkerung schwer, eine Verbindung zu
       sogenannten fortschrittlichen Themen aufzubauen, während ihr Land in einer
       Migrationskrise steckt, die Inflationsrate mehr als 13 Prozent erreicht und
       die Kriminalitätsrate hoch ist; Probleme, die seit Jahren keine Regierung
       in den Griff bekommen hat. Und das alles zusätzlich zu sich ständig
       verschärfenden internationalen Krisen.
       
       Elisa Loncón, Repräsentantin des Mapuche-Volkes und ehemalige Präsidentin
       des Verfassungskonvents, sagte, dass „die Niederlage auf individuellen und
       kollektiven Fehlern beruht“. Es gab Schuldzuweisungen an Andersdenkende, es
       fehlte an Debatten und manchmal trübte das Machtstreben einiger
       Konventsmitglieder das Verständnis für die anstehende Aufgabe.
       
       ## Die Rechten haben die Debatte untergraben
       
       Die rechten Parteien in Chile, die im Verfassungskonvent weniger als ein
       Drittel der Mitglieder stellten, erwiesen sich der Aufgabe ebenfalls nicht
       gewachsen. Im Gegenteil: Viele von ihnen, wenn nicht sogar die meisten,
       wollten schlicht den Prozess diskreditieren und die Debatte behindern.
       Schlimmer noch, sie produzierten Fake News, verbreiteten Lügen in den
       sozialen Medien und schürten Ängste.
       
       Chile war ein deutliches Beispiel dafür, wie gefährlich Fake News während
       politischer Kampagnen sein können, die ohne Rücksicht auf die Folgen für
       das Land in Umlauf gesetzt werden. In den vergangenen Monaten kursierten in
       Chile so viele von ihnen, dass die Befürworter des Verfassungsvorschlages
       nicht in der Lage waren, auf alle Falschinformationen zu reagieren und eine
       klare Botschaft im Hinblick auf ihre tatsächlichen Vorschläge zu
       vermitteln.
       
       Doch es ist nicht alles verloren. Die Chilenen lehnten den Vorschlag
       mehrheitlich ab, wollen aber eine neue Verfassung: Die Pinochet-Verfassung
       ist für sie inakzeptabel. Chile hat in den vergangenen Jahren einige
       Fortschritte gemacht. Das Land versteht, dass es sich modernisieren muss,
       um die künftigen Herausforderungen meistern zu können.
       
       Die Politiker haben jetzt die Aufgabe, den wirklichen Bedürfnissen und
       Forderungen der Chilenen gerecht zu werden. [3][Das hat auch Präsident
       Boric verstanden], der noch am Tag des Plebiszits sein politisches Kapital
       zur Verfügung stellte, um einen Dialog zwischen allen politischen Kräften
       in Gang zu setzen. Das Ziel ist, zu entscheiden, ob in den folgenden
       Jahren, entweder durch Reformen im Kongress oder durch erneute Wahlen zu
       einem neuen Verfassungskonvent, das Land vorangebracht werden soll.
       
       ## „Nicht diese Verfassung – eine andere“
       
       Chile hat eine weitere Chance. Die Rechte hat in ihrer Kampagne
       versprochen, sich an einem neuen Verfassungsprozess zu beteiligen. Viele
       Unabhängige, die den ersten Vorschlag abgelehnt haben, fordern nun, dass
       so schnell wie möglich ein neues Verfahren eingeleitet wird.
       
       Rechte und Unabhängige haben sich bereits zu einer Reihe von Kompromissen
       bereit erklärt: Es soll einen Übergang zu einem sozialen und demokratischen
       Rechtsstaat geben und eine Frauenquote. Die indigenen Völker sollen durch
       einen multikulturellen Staat in der Verfassung anerkannt werden und die
       Grundrechte modernisiert werden, insbesondere Bürger- und Gesundheitsrechte
       sowie politische Rechte. Wasser soll Menschenrecht werden.
       
       „Nicht diese Verfassung – eine andere“, war am Sonntagabend zu hören. Es
       gibt noch Hoffnung in Chile, aber mehr auf die Menschen als auf die
       Politiker. Der vergangene Sonntag ist verloren, aber das Land hat eine
       Zukunft voller Veränderungen vor sich. Und allen ist klar, dass der
       verfassungsgebende Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist.
       
       10 Sep 2022
       
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