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       # taz.de -- Spießertum von Influencerinnen: Biedermeier mit Matcha
       
       > Schöne junge Frauen posten in den sozialen Medien unrealistische
       > Morgenroutinen. Warum ist dieser Rückzug in den eigenen Alltag so
       > erfolgreich?
       
   IMG Bild: Mit einer Gesichtsmassage in den Tag starten: #ThatGirl
       
       Es gibt sie! Diese Frauen, die einfach nur perfekt sind. Sie stehen um 5
       Uhr morgens auf und sehen natürlicherweise wunderschön aus mit strahlender
       Haut. Sie trinken ein großes Glas Wasser mit einer perfekten
       Zitronenscheibe. Anschließend machen sie eine Runde Pilates, die sie zum
       Sexy-Schwitzen und nicht zum Eklig-Schwitzen bringt. Um sich zu erfrischen,
       duschen sie und tragen im Bad ihre Skincare-Routine mit High-End-Produkten
       auf. Bevor sie leichtfüßig durch ihre sonnendurchflutete, moderne und sehr
       neutral gehaltene Wohnung in die Küche tänzeln, planen sie sorgfältig den
       bevorstehenden Tag. Dann bereiten sie sich ein Frühstück mit einer
       immergrünen Avocado zu, machen sich fertig – in sportlicher Lounge Wear –,
       tragen ihre Haare hoch zum Dutt und machen sich dann an die Arbeit.
       
       Es gibt sie, diese Frauen. Zwar nicht im richtigen Leben, [1][dafür aber
       zuhauf auf Tiktok, Instagram und Youtube]. Und sie haben einen Namen: „That
       girl“, zu Deutsch „dieses Mädchen“. Diese Mädchen sind allesamt jung,
       schlank, konventionell attraktiv und haben ihr Leben komplett im Griff.
       Jeder Handgriff sitzt, der Kaffee ist nie aus, nie wird verschlafen, nie
       hasten sie von einem Termin zum nächsten.
       
       In diesem Trend finden mehrere Entwicklungen in den sozialen Medien
       zusammen, beispielsweise [2][die #girlboss-Ära]. Denn diese Frauen machen
       den ganzen Scheiß nicht aus Spaß. Alles Potenzial wird aus ihnen
       herausgewrungen. Zeitverschwendung gibt es nicht. Das Ziel: die beste
       Version ihrer selbst zu werden mit viel Disziplin und Arbeit.
       
       Doch etwas hebt that girl von den tausenden Hustlers, Grinders und girl
       bosses auf Instagram hervor. Sie ist nie im Stress, nie exzessiv. Sie hat
       die „work hard, play hard“-Attitüde hinter sich gelassen. Wellness und
       Achtsamkeit sind wichtige Aspekte ihrer Morgenroutine; Sport und gesunde
       Ernährung ebenso. In der Hinsicht tun die Frauen in den Videos nichts
       Schlimmes – im Gegenteil. Alles, was sie zeigen, sind erwiesen gesunde
       Handlungen. Jede Ärzt*in wird empfehlen, sich zu bewegen, genug zu
       trinken, ausreichend zu schlafen und gesund zu essen. Doch was that girl
       gelungen ist, ist, aus Selbstfürsorge einen Wettbewerb zu machen.
       
       ## Der ganze Alltag instagramable
       
       Vor allem Instagram ist berüchtigt dafür, den User*innen nur die besten
       Seiten eines Lebens zu zeigen. Die verschiedenen Versuche, das soziale
       Medium ehrlicher und authentischer zu machen, sind immer wieder
       gescheitert. Für jede Frau, die ihre Dehnungsstreifen zeigt, gibt es 50,
       die mit unsichtbaren Filtern jede Hautunreinheit retuschieren. Das hat
       bedeutsame Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl der oft jungen User*innen.
       Und das beschränkt sich keineswegs auf das Körperbild. Die britische
       Soziologin Professor Rosalind Gill von der University of London hat 2020 in
       einer Studie 175 junge Frauen und nichtbinäre Personen zwischen 18 und 30
       Jahren [3][zu ihrem Verhalten auf Social Media befragt]. Das ernüchternde
       Ergebnis: 90 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen Instagram das
       Gefühl gibt, weniger erfolgreich als andere zu sein.
       
       Und hier legt that girl ihre perfekt manikürten Finger in die Wunde.
       Plötzlich muss nicht nur der Urlaub instagramable sein, sondern der gesamte
       Alltag. Sich gesund und munter zu halten muss ästhetisch sein. Stabile
       Routinen und Gewohnheiten sind keine persönlichen Präferenzen mehr, denn es
       gibt hier ein Richtig und ein Falsch.
       
       ## Fahrt ins Büro wird nicht gezeigt
       
       Warum sind sie damit so erfolgreich? Die meisten Zuschauer*innen werden
       wissen, dass diese Routine unrealistisch ist. Denn sobald ein Faktor
       hereinkommt – Pendelei, eine Partner*in, die im Haushalt lebt, Kinder,
       Schichtarbeit, ist das schon nicht mehr zu schaffen. In den Videos selbst
       wird die Erwerbsarbeit nur durch die Blume erwähnt. Ist that girl eine
       Studentin, dann sieht man sie manchmal zumindest zur Uni gehen. Studiert
       wird etwa Anständiges und Schickes: Zahnmedizin, BWL oder auch, wenn sie
       etwas kreativer ist, Public Relations. Sind die Frauen berufstätig, wird
       nicht wirklich klar, was sie eigentlich tun. Die Fahrt ins Büro wird nicht
       gezeigt, manchmal gibt es Szenen, wie sich that girl an den Schreibtisch
       setzt. Aber es bleibt nebulös, was sie eigentlich tut, außer perfekt zu
       sein. Einige andere Content-Creatorinnen haben für ihren Kanal versucht,
       diese Morgenroutine zu befolgen. Die meisten scheiterten.
       
       Eigentlich ist that girl eine Spießerin. Gäbe es so etwas wie Auras, wäre
       ihre beige wie ihre perfekte Couch. Im Film sind Protagonist*innen, die
       sich so starr an irgendwelche Routinen halten, eher eine traurige Figur.
       Sie benötigen eine Begegnung mit einem Freigeist, um mal aus ihrer Rolle
       herauszubrechen. Ein gutes Beispiel für diese Trope ist „und dann kam
       Polly“.
       
       Jetzt plötzlich wollen alle Spießer*innen sein. Selbst wenn man nicht
       explizit [4][nach #thatgirl-Content sucht], findet man sie. Viele
       Content-Creator*innen auf Tiktok, Youtube und Instagram taggen ihre Vlogs
       mit den Worten productive, habits, success. Auch beliebt sind Anleitungen,
       wie man that girl wird, die mit Binsenweisheiten daherkommen wie „wake up
       early“ oder „make your bed“. Auf Youtube, wo die Videos länger sind, gibt
       es zwar häufig einen kurzen Disclaimer, der sinngemäß aussagt, dass die
       perfekte Morgenroutine für jeden anders aussieht. Aber das ist nur ein
       Feigenblatt, denn die einzig wahre Routine wird im Video trotzdem gefilmt.
       
       Die Kommentare und die Views können sich sehen lassen. Die meisten
       bewundern diese disziplinierte junge Frau auf dem Bildschirm. „You’re such
       an inspo!!“, “I just started to watch your videos and they really motivate
       me to be the best version of myself.“
       
       ## Langeweile sah noch nie so gut aus
       
       Woher kommt dieser Sinneswandel? Zunächst einmal sah Langeweile noch nie so
       gut aus. Da trifft man nicht auf den Mitarbeiter vom Bauamt, der morgens
       seine Wurststulle isst und sich dann ins Auto zwängt und zur Arbeit fährt.
       Hier [5][spricht die Routine für Erfolg, für Glück, für Privilegien]. Und
       es scheint so einfach und gut für dich zu sein. Einfach früher aufstehen
       und fünfmal die Woche Sport machen, dann wird alles supi. Diese Videos sind
       die femininere Version eines Motivationsseminars. Matcha statt Tschaka.
       
       Doch man kann den Erfolg dieser Videos nicht ohne die Coronapandemie
       verstehen. Als im März 2020 die Welt stehen blieb, war das eine Zäsur.
       Viele verstanden diese Zwangspause als Startschuss für ihr neues Leben.
       Wenn nicht jetzt, wann dann, war die Devise: Selbstoptimierung in Zeiten
       einer weltweiten Krise.
       
       Auch mit der Verdrängung der Coronapandemie aus der kollektiven
       Aufmerksamkeit leben wir in unsicheren Zeiten: Krieg, Klimawandel, ein
       allgegenwärtiger Rechtsruck. All das bedroht unser Leben und gleichzeitig
       können wir als Individuum nur begrenzt etwas tun. Ein Gefühl des
       Kontrollverlusts und der Orientierungslosigkeit macht sich breit. Ein
       häufiger Bewältigungsmechanismus ist die Flucht in das Innere, die Flucht
       aus der Politik hin zu dem, was wir kontrollieren können: unseren Alltag
       und unseren Körper. Diese Videos scheinen eine Antwort zu bieten auf die
       antike Frage: „Wie will ich leben?“
       
       Es findet ein Biedermeierrevival statt, auch diesmal im Gegensatz zu einer
       sehr wohl politischen Jugend. Es ist eine Lebensaufgabe, den Lifestyle in
       den Videos zu leben und auch langfristig beizubehalten. Aber das scheint
       immer noch verlockender, als sich mit Dingen zu beschäftigen, die sich eh
       nicht ändern lassen.
       
       Doch die wenigsten Zuschauer*innen werden wahrscheinlich selbst zu that
       girl, weil diese Routinen nicht zu schaffen sind. Viele werden es
       wahrscheinlich auch gar nicht erst versuchen – und sich trotzdem immer
       wieder diese Videos anschauen, um zu träumen: von einer Version von sich,
       die jeden Morgen ohne Snoozer direkt aufsteht und Sport macht und mal etwas
       Anständiges frühstückt. Einer Version von sich, die endlich glücklich ist
       und durch Acai-Bowls und Skin-Care ein wenig Frieden geschaffen hat. Und
       schon diese Gedanken machen uns weniger hilflos, denn es werden konkrete
       Schritte zur angeblichen Verbesserung des Lebens vorgelebt.
       
       That girl ist eine perfekte Projektionsfläche mit einem modernen
       Heilsversprechen. Es ist eine Flucht in ein Idyll, und wie jedes Idyll kann
       es niemals erreicht werden. Und wenn es die Dame im Video noch so einfach
       aussehen lässt.
       
       8 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwangerschaften-auf-Instagram/!5867038
   DIR [2] /Serienkolumne-Die-Couchreporter/!5404603
   DIR [3] https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14680777.2021.1996427
   DIR [4] https://www.tiktok.com/amp/tag/becomingthatgirl
   DIR [5] /Sozialer-Aufstieg-auf-Social-Media/!5833741
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laila Oudray
       
       ## TAGS
       
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