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       # taz.de -- Kunstriennale in Norwegen: Eindringlinge in der Hafenstadt
       
       > Sie stiftet Verwirrung und macht Spaß: die Kunsttriennale Bergen Assembly
       > in Norwegen. Sie ist versponnen und spricht urbane Probleme an.
       
   IMG Bild: Eine zeitgenössische Medusa begeht Bootshausfriedensbruch: Johannes Paul Raether in Bergen
       
       Wie ein Karpfen auf trockenem Lande schnappt der Bootsbesitzer nach Luft.
       Auch der Dame neben ihm ist die Empörung ins Gesicht geschrieben. Mit einem
       gewagt artistischen Hechtsprung hat sich auf das Deck ihrer im Hafen der
       Stadt Bergen vor Anker liegenden Motoryacht eine irrwitzige Medusa in
       neongrünen Nylonstrumpfhosen geworfen. Anstelle von Haaren trägt sie platte
       Fahrradschläuche, Pfeile stehen wild vom Kopf ab.
       
       Obwohl in der Peripherie, nördlich des 60. Breitengrades, gelegen, zieht es
       das ganze Jahr über Touristen ins norwegische, eigentlich beschauliche
       Bergen. Hier befindet sich der Ausgangshafen für die auf der legendären
       Hurtigruten fahrenden Postschiffe, die noch immer Waren an die Häfen der
       Westküste bis Kirkenes an der russischen Grenze liefern. Und seitdem der
       Korrespondenz-Verkehr 1984 eingestellt wurde, befördern sie vor allem
       Passagiere.
       
       Trotz des „Bootshausfriedensbruchs“ rief aber niemand die Polizei –
       vornehmlich wohl wegen des Pulks von Kunstinteressierten, die der
       [1][Performer Johannes Paul Raether] und sein von ihm umsorgtes
       Schwarmwesen beim geopathologischen Streifzug „Bryggens Beifang“ im
       Schlepptau hatte und die seine Aktionen entzückt mit ihren Smartphones
       filmten.
       
       Denn alle drei Jahre findet die Kunsttriennale „Bergen Assembly“ statt, sie
       bespielt wechselnde Orte in der Stadt, so eben auch nun kurz jene
       Motoryacht. „I am many, and I am we“, war dann über den Stöpsel im Ohr zu
       hören, und schwups, schon herrschte Verwirrung, wer jetzt der Eindringling
       oder das korrigierende Kollektiv sei.
       
       ## Mulden erforschen
       
       Bereits auf der Piazza della Signoria in Florenz oder in einem Berliner
       Apple Store erforschten Raethers Misch-Untiere „toxische Mulden“. Auch vor
       der Kulisse der Kaianlage Bergens, Bryggen genannt, wirkt es ulkig, doch es
       führt ein urbanes Problem vor Augen: Bewohnten für vier Jahrhunderten
       hanseatische Kaufleute die Giebelhäuser am Hafen, sind sie heute mit
       überteuerten Fish-and-Chips-Lokalen oder Souvenirläden nur noch Fassade für
       Touristen.
       
       Die jetzt eröffnende Bergen Triennale mit dem Titel „Yasmine and the Seven
       Faces of the Heptahedron“ zeigt globale Themen in ihrer lokalen Bedeutung
       auf. Künstlerisch ausgerichtet hat sie dieses Mal der französische Objekt-
       und Installationskünstler Saâdane Afif. Gemeinsam mit der Kuratorin Yasmine
       d’O – ein Kniff Afifs, um nicht selbst als künstlerischer Leiter in
       Erscheinung zu treten – hat er für die Triennale einen recht verworrenen
       Überbau ersonnen.
       
       Ausgehend von einer Geschichte [2][zur historischen Figur Yasmine
       d’Ouezzan, ein Starlet der 1930er Jahre und erste Billardmeisterin
       Frankreic]hs, entspinnen Saâdane Afif und seine fiktive Kuratorin sieben
       Charaktere. Von der Mopedfahrerin über die Wahrsagerin oder den Touristen
       sollen diese Figuren je eigene künstlerische Narrative in dieser Kunstschau
       entwickeln.
       
       ## Pool mit Motoröl
       
       Manch Erzählstrang entschlüsselt sich erst auf den zweiten Blick. Der zur
       Mopedfahrerin etwa, im Bryggens Museum, oberhalb des Labyrinths kleiner
       Gassen. Dort blickt man auf die Filmprojektion eines Pools, der mit Motoröl
       gefüllt ist. Die originale Kunstinstallation fertigte 1977 der Japaner
       Noriyuki Haraguchi für Teheran an.
       
       Bei der Restaurierung des Pools Jahre später – seither hatte sich [3][die
       iranische Hauptstadt politisch radikal verändert] – fischte die Künstlerin
       Shirin Sabahi Haarnadeln, Münzen oder Muscheln aus dem dunklen Bassin,
       hineingeworfene Glückspfänder von Teheraner:innen. Sie sind nun aufgebahrt
       in Vitrinen zu sehen.
       
       Die Bergen Assembly führt zu entlegenen Orten und sehr besonderen
       Veranstaltungen, zur Uraufführung des zeitgenössischen Komponisten Augustin
       Maurs in der Kathedrale Domkirke oder zu einem atmosphärischen Live-Akt von
       Dominique Gonzalez-Foerster im ehemaligen Club Grand Bergen. Das macht
       Spaß, käme aber zuweilen auch ohne Saâdane Afifs überbordendes Konstrukt
       aus.
       
       Die freudvolle „La Cantina de la Touriste“ braucht den Überbau jedenfalls
       nicht. Mit Keramik, leuchtenden Mosaiken, Vorhängen und Rollos, einem
       frohen Stilmix aus südamerikanischen und afrokaribischen Einflüssen, hat
       die aus Venezuela kommende Künstlerin Sol Calero ein Café am Theatergarten
       in einen regelrechten Gaumen- und Augenschmaus umgestaltet. In dessen Küche
       werden Immigranten beschäftigt.
       
       Es gibt auch Fisch in der „Cantina“. Denn noch immer speist sich Norwegens
       Reichtum aus dem Meer und seinen immensen Fischgründen. Doch längst hat die
       Stadt Bergen eine viel ergiebigere Quelle für sich erschlossen – die
       Erdölförderung im nahen Stavanger. Nun, mit dem Krieg in der Ukraine,
       bringt sie explodierende Umsätze.
       
       Bergen Assembly, bis 6. November
       
       16 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jana Janika Bach
       
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