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       # taz.de -- Goldener Löwe für Laura Poitras: Filmen für die Toten
       
       > Bei den 79. Filmfestspielen von Venedig hat Laura Poitras mit einem
       > Dokumentarfilm über die Fotografin Nan Goldin gewonnen. Eine gute Wahl.
       
   IMG Bild: Laura Poitras freut sich über den Goldenen Löwen der Filmfestspiele Venedig
       
       Kunst und Aktivismus gehen nicht immer eine glückliche Verbindung ein. Sie
       kann für Klassiker mit teils unfreiwilliger Komik sorgen („Sonne statt
       Reagan“ von Joseph Beuys) oder mindestens fragwürdig ausfallen wie beim
       Zentrum für politische Schönheit, das Migranten suchte, die sich freiwillig
       Tigern darbieten wollten („Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“). Manchmal
       kommt das eine aber fast zwangsläufig zum anderen. Wie im Dokumentarfilm
       „All the Beauty and the Bloodshed“ der [1][US-amerikanischen Regisseurin
       Laura Poitras], der am Sonnabend bei den 79. Internationalen
       Filmfestspielen mit dem Goldenen Löwen als bester Film ausgezeichnet wurde
       und in dem Poitras die US-amerikanische Fotokünstlerin Nan Goldin
       porträtiert.
       
       Bei Nan Goldin gehören Leben und Kunst seit jeher eng zusammen. Sie
       dokumentierte ihren Alltag wie den ihrer Freunde, machte bei Drogen und
       Gewalt keine Ausnahme. Dass Goldin, die am eigenen Leib lebensgefährliche
       Erfahrungen mit Sucht machte, sich [2][als Künstlerin später gegen die
       Sackler-Familie wenden] würde, die als Mäzene in der Kunstwelt viel Geld in
       Museen gesteckt haben, zugleich jedoch als Industrielle mit dem Vorwurf
       konfrontiert sind, durch ihr stark abhängig machendes Opioid Oxycontin für
       ungefähr eine halbe Million Tote verantwortlich zu sein, war da nur
       konsequent.
       
       ## Keine Spenden von den Sacklers
       
       Poitras lässt Goldin in ihrem Film über weite Strecken ihre eigenen
       Arbeiten kommentieren, was in diesem Fall heißt: aus ihrem Leben erzählen.
       Goldins Fotos laufen dazu als Diashow, so wie sie von ihr selbst
       ursprünglich als Arbeiten präsentiert wurden. Eine direkte Linie führt im
       Film vom frühen Suizid ihrer älteren Schwester Barbara, die wegen
       Unangepasstheit stets Konflikte mit den Eltern hatte und schließlich
       aufgrund einer falschen Diagnose in psychiatrische Anstalten gesperrt
       wurde, zu den Aktionen Goldins etwa im Metropolitan Museum of Art. Dort
       werfen Aktivisten im „Sackler Wing“ des Museums vor dem antiken Tempel von
       Dendur Pillendosen in einen angelegten Teich, um gegen die Verwendung des
       Namens Sackler zu protestieren.
       
       Wie der Film festhält, werden diese Aktionen genauso Erfolg haben wie die
       Aufrufe von Goldins Gruppe an international renommierte Museen, keine
       Spenden mehr von den Sacklers zu akzeptieren. Das von Poitras dokumentierte
       Material der Aktionen rahmt dabei die Fotoarbeiten Goldins, was dem Film
       eine formale Strenge gibt, die lediglich auf den ersten Blick schlicht
       erscheinen mag: Eine gute Wahl für den Goldenen Löwen bei ansonsten
       überschaubarer ernstzunehmender Konkurrenz.
       
       ## Ein verdienter Preis für Blanchett
       
       Ein anderer Favorit des Wettbewerbs, „Tár“ vom US-amerikanischen Regisseur
       Todd Field, in dem Cate Blanchett eine so selbstbewusste wie strittige
       Dirigentin spielt, wurde immerhin mit der Coppa Volpi für die beste
       Schauspielerin bedacht. Für Blanchett ein verdienter Preis, weitere
       Auszeichnungen wären in dieser ruhigen Meditation über Musik und Macht
       gleichwohl gerechtfertigt gewesen.
       
       Die Jury hatte stattdessen deutliche Sympathien für „Saint Omer“ von Alice
       Diop. Für das Spielfilmdebüt der französischen Regisseurin, die bisher als
       Dokumentarfilmerin in Erscheinung getreten ist, gab es sowohl den
       Luigi-de-Laurentiis-Preis für den besten Erstlingsfilm als auch den Großen
       Preis der Jury. Diop erzählt darin von einem Strafprozess gegen eine Frau,
       die angeklagt ist, ihre Tochter getötet zu haben. Nicht alle Figuren sind
       gleichermaßen überzeugend gezeichnet, die Inszenierung der Gerichtsszenen
       gelingt Diop dafür nüchtern und eindringlich.
       
       ## Flucht aus dem Iran
       
       Mit dem Spezialpreis der Jury für „No Bears“ von [3][Jafar Panahi setzte
       die Jury ein Zeichen gegen die Inhaftierung des iranischen Filmemachers und
       seiner gleichfalls vor Kurzem verhafteten Kollegen]. Panahi übernimmt darin
       wieder selbst eine der Hauptrollen, wie in „Drei Gesichter“ von 2018 ist er
       zudem auf dem Land unterwegs. „No Bears“ spielt auf mehreren Ebenen
       parallel, da Panahi im Film an einem Film arbeitet, der in Teheran gedreht
       wird. Von einem Dorf aus führt er am Laptop online Regie, sofern es die
       Funkverbindung hergibt.
       
       Erneut steuert die Geschichte auf eine Konfrontation von modernem
       städtischen Leben und ländlicher Tradition zu, in die Panahi als
       Protagonist verstrickt wird. Zugleich thematisiert er direkt das Thema
       Flucht aus dem Iran, geht es im Film im Film doch um ein Paar, das mit
       gestohlenen Pässen die Ausreise plant. Das Publikum der Gala würdigte die
       Auszeichnung für Panahi mit stehendem Applaus.
       
       Panahi war auch in den Dankesreden seiner Kollegen gegenwärtig. Der
       italienische Regisseur Luca Guadagnino, dessen dramaturgisch effektive,
       aber in ihrer Verquickung von Liebe und Schrecken unausgegorene
       Kannibalenromanze „Bones and All“ den Preis für die beste Regie erhielt,
       widmete seinen Preis Panahi und dem kurz zuvor inhaftierten Regisseur
       Mohammad Rasoulof. Laura Poitras weitete den Kreis der Betroffenen und
       gedachte aller inhaftierten Regisseure.
       
       ## Kriminalfall mit „Identitätsklau“
       
       Man kann bei den Entscheidungen bemängeln, dass ein herausragender Film wie
       „Love Life“ des Japaners Kōji Fukada nicht bedacht wurde. Andererseits muss
       man sich bei diesem Jahrgang insgesamt wundern, wie zahlreich die mauen
       Filme im Rennen waren. So gab es mit Susanna Nicchiarellis „Chiara“ über
       Santa Clara, die Gründerin des Ordens der Klarissen, am letzten Tag des
       Wettbewerbs eine Art italienisches Mittelalter-Musical, das in seiner
       einfallslosen Gestaltung mit Abstand als langweiligster Film der Auswahl
       gelten kann.
       
       Interessante Beiträge fanden sich mit ein wenig Glück in den Nebenreihen.
       In der Reihe „Orizzonti“ etwa ließ der japanische Regisseur Kei Ishikawa
       mit seinem Spielfilm „Aru otoko“ (A Man) alle Gepflogenheiten des
       Thrillergenres außer Acht, um von einem Kriminalfall mit „Identitätsklau“
       zu erzählen, bei dem es genauso um Wahlverwandtschaft wie um die Aufklärung
       eines Verbrechens ging. Am Rand baute Ishikawa noch Seitenhiebe auf die
       Diskriminierung von Koreanern in Japan ein.
       
       ## Eine Studie über Film noir
       
       In der unabhängigen Reihe „Giornate degli Autori“ gab es wiederum
       ungewöhnliche Perspektiven auf die Geschichte Algeriens, wie im Kostümfilm
       „El Akhira. La dernière reine“ von Adila Bendimerad und Damien Ounouri, der
       die Legende der Königin Zaphira im 16. Jahrhundert erzählt, die das Land
       gegen den Korsar Arudsch zu verteidigen versuchte. Der kanadische Regisseur
       Graham Foy steuerte mit „The Maiden“ eine mühelos zwischen Traumlogik und
       lebensnaher Direktheit wechselnde Coming-of-Age-Geschichte bei, und der
       marokkanischstämmige britische Regisseur Fyzal Boulifa schickte eine am
       Rand der Gesellschaft lebende Mutter mit ihrem heranwachsenden Sohn auf
       eine Odyssee um Anerkennung in Tanger.
       
       Der wohl originellste Film des Festivals fand sich unerwartet in der Reihe
       „Classici documentari“, war allerdings weniger ein Dokumentarfilm über
       Filmklassiker als vielmehr eine Studie über Film noir und Zeit: „Ragtag“
       des italienischen Experimentalfilmers Giuseppe Boccassini besteht aus
       Szenen von mehr als 300 Filmen, darunter Klassiker wie Alfred Hitchcocks
       „Notorious“, Fritz Langs „M“ oder Robert Siodmaks „The Killers“.
       
       Boccassini montiert sein Material nicht bloß aneinander, das, wie der Titel
       auf Deutsch heißt, „bunt gemischt“ ist, sondern nimmt rags, „Fetzen“, von
       Filmen und baut daraus zum Teil Schleifen, die den mechanischen Charakter
       vieler Szenen herausstellen und ad absurdum führen. Ton und Bild sind oft
       unabhängig voneinander gestaltet, kommentieren einander, ohne etwas zu
       erklären. Von der Freiheit, die Boccassini sich mit den Bildern nimmt,
       hätte man sich in diesem Jahr noch mehr gewünscht.
       
       11 Sep 2022
       
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