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       # taz.de -- Die Wahrheit: Der letzte der alten Römer
       
       > Erst Gorbatschow, dann Elizabeth II.: Tritt Papst Franziskus als Nächster
       > vor seinen Schöpfer?
       
   IMG Bild: Sorgenvoll guckt der alte Meister des Mummenschanzes unterm Helm: Papst Franziskus
       
       Wenn Papst Franziskus in Rom aus dem Fenster schaut, dann blickt er nicht
       nur auf die prächtige Kuppel des Petersdomes, sondern auch auf eine
       unscheinbare Gartenhütte. Inmitten des apostolischen Gestrüpps liegt sie,
       neben dem alten Lateranpalast. Regelmäßig dringt betörende Musik aus der
       Laube herüber, es sind italische Weisen in astreinem Kirchenlatein.
       Manchmal erhascht Franziskus sogar einen kurzen Blick auf den singenden
       Bewohner, nicht ganz so gebeugt und schlurfend wie er selbst, aber doch an
       Jahren reich gesegnet. Franziskus’ anfänglicher Verdacht, es könnte sich um
       Benedikt, den Papa emerito, handeln, hat sich zerstreut.
       
       Franziskus jedoch treiben seit Wochen die Sorgen um. Erst Gorbatschow und
       jetzt Elizabeth II. – was wird mit ihm selbst, wird er der Nächste sein?
       Nicht dass er sich vor dem Tod fürchtet, zu und zu gern würde er ins
       Paradies einkehren und mit all den Himmelsbewohnern persönlich in den
       Dialog treten – von Maria bis Maradona.
       
       Aber was wird aus dem Vatikan? Der Kurie? So viele Reiche straucheln
       momentan, da darf es auf gar keinen Fall den Kirchenstaat erwischen. Zu
       enttäuschend war kürzlich der Auftrieb der Kardinäle aus aller Welt
       verlaufen. Auch unter den halbwegs Neuen schien ihm keiner tauglich genug,
       das päpstliche Amt zu übernehmen, so müde der Pontifex sich in seiner
       Verantwortung auch fühlt. Und so treiben ihn die Sorgen hinab in den
       Garten, um der Herkunft der beglückenden Töne nachzugehen.
       
       Scipio Pompei, der sagenumwobene letzte der Römer! Schon als Franziskus
       damals das erste Mal den Vatikanstaat betrat, drangen die Gerüchte über den
       mysteriösen Ureinwohner an das Ohr des noch jungen Argentiniers, aber
       niemand hatte ihn je zu Gesicht bekommen. Und nun steht Franziskus
       höchstselbst vor der lebenden Legende, die gut anderthalb Jahrtausende auf
       dem Buckel haben muss.
       
       ## Lateinische Wellenlänge
       
       Sofort sind die beiden alten Herren auf einer lateinischen Wellenlänge.
       Scipio weiß schließlich genau, wen er da vor sich hat, er ist geistig
       hellwach und verfolgt die aktuellen Nachrichten aus aller Welt – über Radio
       Vaticano in lateinischer Sprache.
       
       „Lilibet ist jetzt auch von uns gegangen“, würdigt er die britische
       Königin, deren Laufbahn er offenbar seit Langem verfolgt hat: „Ich kenne
       sie, glaube ich, seit dem Dreißigjährigen Krieg.“ Mit Geschichte kennt er
       sich aus. Seine Laube ist mit festgenagelten Papyrusbahnen ausgeschmückt,
       auf einer Zeitleiste lassen sich wichtige Ereignisse bis zur Plünderung
       Roms im Jahr 410 durch die westgotischen Krieger unter Heerkönig Alarich
       zurückverfolgen, das Jahr seiner Geburt.
       
       In tadellosem Latein legt Franziskus nun dem indigenen Römer seine Sorgen
       dar. Für die der erfahrene Scipio auch gleich eine Lösung parat hat: Es
       handle sich um einen allgemeinen Irrtum, wonach Rom nur noch als
       Kirchenstaat und nicht mehr als politische und militärische Macht
       existiere. Er selbst, Scipio Pompei, fordere daher nicht nur die politische
       Anerkennung zumindest durch die Länder Europas ein. „Ohne eine
       schlagkräftige Armee wird der Staat Vatikan sich nicht mehr lange halten.
       Der Moskauer Patriarch Kirill hat genau erkannt, dass sein Reich untergeht,
       wenn er sich nicht mit dem Herrscher der Rus einigt.“
       
       Wortreich lobt Scipio die Pax Romana und die unzähligen kulturellen wie
       technischen Bereicherungen, die ganz Europa dem Wirken Roms zu verdanken
       habe. Vom Beton über den Aquädukt bis zum „Thermenwesen und den befestigten
       Fernstraßen“ landet der Alte schnurstracks beim „Beitrag der lateinischen
       Sprache für das europäische Denken“. So langsam ist auch dem Papst klar,
       worauf es dem Urrömer ankommt. Er ist es leid, der kulturellen Aneignung
       römischer Traditionen zusehen zu müssen, „ohne“, so Scipio Pompei, „dass
       den daran Beteiligten ihre Übergriffigkeit auch nur im Ansatz klar ist“.
       
       ## Kulturelle Aneignung
       
       Plötzlich wird er überaus streng und weist auf die „Ausladung dreadlockiger
       weißer Musiker*innen“ bei Konzerten hin. „Jahrhundertelang“, springt der
       Römer durch die Jahrhunderte, „hat sich die Führung der Deutschen Nation
       des Vorsatzes vom ‚Heiligen Römischen Reich‘ bemächtigt, ohne jemals den
       Tiber von innen gesehen zu haben. Das war kulturelle Aneignung schlimmster
       Sorte.“
       
       Und ein schlechtes Gewissen wegen des cäsarischen Titelraubes hin zum
       „Kaiser“ hätten sie auch nicht gehabt, genauso wenig wie der russische Zar.
       Aber die Mächtigen von heute, überwiegend keine gekrönten Häupter mehr,
       seien ja nicht anders.
       
       „Als sie am 25. März 1957 die sogenannten Römischen Verträge zur Gründung
       der EWG unterschrieben haben, war ich nicht eingeladen!“, echauffiert sich
       Scipio Pompei. Und das, obwohl er sich als Spiritus Rector der Idee und zur
       Unterschrift bereit damals im Konservatorenpalast neben de Gaulle und De
       Gaspari mit der Originalschreibfeder Vergils, eingefunden habe. Die
       flapsig-abfällige Bemerkung ausgerechnet des katholischen Adenauers „Wer is
       dat dann?“ klingele ihm heute noch in den Ohren.
       
       „Einen Obolus für all die geraubten oder übernommenen römischen Erfindungen
       müssen sie entrichten“, fordert der Letzte seiner römischen Art. „Und damit
       rüsten wir dann die Schweizer Garde auf.“ Er selbst stehe als Befehlshaber
       jederzeit zur Verfügung, obwohl ihm eigentlich die Übernahme „eines
       gesamteuropäischen Amtes“ vorschwebe. „Sozusagen als Präceptor Maximus.“
       
       Heureka! Durchfährt es den Papst. Endlich weiß Franziskus, wem er beim
       nächsten Auftrieb der Kardinäle die rote Haube andienen wird! Keinem
       Geringeren als ihm, Scipio Pompei!
       
       Doch zuvor will der Mann in den Schuhen des Fischers noch das letzte
       Mysterium klären: „Wie, verehrter Scipio Pompei, konnten Sie sich über all
       die Jahrhunderte so quicklebendig halten?“ Lächelnd gibt der steinalte
       Römer sein Geheimnis preis: „Enthaltsamkeit! Keine Frauen, keine Männer,
       keine – wie heißt das heute? – Queeren.“
       
       ## Lebensbejahender Ausweg
       
       Das ist es! Franziskus geht sichtlich ein Licht auf: „Dann werde ich mich
       im Gegenteil von heute an genau dieser Enthaltsamkeit enthalten“, dankt er
       dem weisen Römer. Ja, es ist soweit. Er kann endlich abtreten. Und in
       nächster Zeit durch queere Sinnesfreuden einen lebensbejahenden Ausweg ins
       Paradies finden. Die Zukunft aber ist gesichert.
       
       Mit einem fröhlichen „spiritus flat ubi vult“ und einem cäsarischen „Ave“
       kraxelt Franziskus zurück in seine kleine päpstliche Zweizimmerwohnung. Vom
       Fenster aus nimmt er Blickkontakt zum alten Benedikt auf, der durch seinen
       Teil des vatikanischen Gartens schlurft. „Läuft!“, ruft er ihm zu.
       
       12 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Umbach
       
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