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       # taz.de -- Energiekrise in Berlin: Angst vor der Kälte
       
       > Mit den Energiekosten steigt bei vielen Mieter*innen die Unsicherheit
       > – sie suchen den Rat der Schuldnerberatung.
       
   IMG Bild: Zwischen 3000 und 5000 Euro mehr fürs Gas: Das können sich viele nicht leisten
       
       Berlin taz | “Berlin packt das“, lautet die Überschrift der Webseite, auf
       der das Land Berlin seit Kurzem [1][Infos, Hilfen und Tipps in Sachen
       Energie] bündelt. Aber die Zahlen lassen Skepsis zu: Rund ein Viertel der
       Berliner*innen ist nicht in der Lage, dem allgegenwärtigen Rat der
       Politik zu folgen und Rücklagen zu bilden, viele sind überschuldet. Und
       selbst diejenigen, die noch sparen können, fragen sich, wie sie die Kosten
       auf Dauer stemmen sollen: Schon in diesem Sommer haben Berlins
       Wohnungsbaugesellschaften die Heizkosten um 60 Prozent bei Fernwärme und um
       100 Prozent bei Gas angehoben. Macht im Jahr zwischen 3.000 und 5.000 Euro
       Mehrkosten, mindestens.
       
       Das schürt Angst und schafft Probleme, die die Schuldnerberatungsstellen
       längst zu spüren bekommen. Von einem deutlichen Anstieg der
       Kontaktaufnahmen berichtet Elisabeth Grauel, Projektleiterin der
       [2][Energieschulden-Beratungsstelle der Verbraucherzentrale Berlin.] „In
       letzter Zeit sind sehr viele Leute gekommen, die Probleme haben, die neuen
       Abschläge zu bewältigen. Bei Anfragen zu Gasproblemen haben wir eine
       Verdopplung gehabt.“
       
       Auffällig sei zudem, dass sich vermehrt Menschen meldeten, die bisher nicht
       so häufig zu den Ratsuchenden gehörten. Die Anfragen von Renter*innen
       hätten sich verdoppelt, sagt die Beraterin, und auch die Zahl der Lohn- und
       Gehaltsempfänger*innen sei gestiegen. Eine Erfahrung, die auch viele
       andere soziale Hilfsprojekte machen.
       
       ## Das Rechnen beginnt
       
       Die kostenlose Energieschuldenberatung der Verbraucherzentrale berät nur
       Verbraucher*innen, die mit dem Energieanbieter einen direkten Vertrag haben
       – wer die Heizkosten über die Miete zahlt, muss sich an die Mieterberatung
       wenden. Im ersten Schritt wird laut Grauel geprüft, ob die Abschläge
       tatsächlich dem realen Verbrauch entsprechen. „Beruhen sie auf einer
       Schätzung, kann der tatsächliche Verbrauch höher oder niedriger sein“,
       erklärt Grauel. „Läuft die Warmwasserversorgung über Strom, kann der
       Verbrauch schnell deutlich über den geschätzten Werten liegen.“
       
       Weiß man über die realen Kosten Bescheid, kann mit dem Rechnen begonnen
       werden. Grauel: „Wir schauen uns das Einkommen und die Wohnkosten an und
       prüfen den Anspruch auf Wohngeld oder ergänzende Leistungen nach dem XII.
       Sozialgesetzbuch“, also Hartz IV. Dabei werde danach unterschieden, ob den
       Verbraucher*innen dauerhaft eine Leistung zusteht oder ob sie
       möglicherweise einen Anspruch auf eine einmalige Leistung haben – etwa bei
       einer Nachzahlung, die nicht zu bewältigen ist.
       
       Nur: Wie kann Menschen geholfen werden, die durch Energiekosten zwar in
       finanzielle Bedrängnis geraten, aber keinen Anspruch auf Sozialleistungen
       haben – weil sie, wie Grauel es formuliert, „gerade über der roten Linie
       liegen“? „Das wissen wir noch nicht“, lautet die knappe Antwort von Marco
       Rauter von der Arbeiterwohlfahrt Berlin, der in Neukölln als
       Schuldnerberater arbeitet.
       
       Zwar hat der Senat schon vor einer Weile einen Härtefallfonds Energie
       angekündigt: 380 Millionen Euro sollen es mindestens sein. Die
       Vergabekriterien sind jedoch noch völlig unklar, und das, obwohl das
       Problem der Energiekosten in der Schuldnerberatung längst im Mittelpunkt
       steht.
       
       Die Frage sei nicht nur, wer unter welchen Bedingungen antragsberechtigt
       ist, es sei auch noch offen, ob der Fonds nur für akute Energieschulden in
       Form hoher Nachzahlungen infrage kommt, so Rauter. „Wenn dem so ist, dann
       ist es verrückt, dass wir den Leuten jetzt raten, höhere Abschläge zu
       zahlen, damit sie nachher keine hohe Nachzahlung bekommen.“
       
       ## Dramatische Folgen
       
       Umgekehrt können die Berater*innen natürlich nicht zulassen, dass
       existenzsichernde Kosten nicht bezahlt werden. [3][Wer Gas oder Strom nicht
       zahlt, riskiert die Sperre.] „Das kann ziemlich schnell gehen“, weiß
       Elisabeth Grauel. „Nach vierzehn Tagen kommt eine Mahnung, das ist in der
       Regel schon die Sperrandrohung, vier Wochen später kommt die
       Sperrankündigung.“ Nach weiteren acht Tagen kann es dunkel oder kalt in der
       Wohnung werden.
       
       Noch dramatischer wird es, wenn man seinem Vermieter Heizkosten schuldig
       bleibt. Gerade in Berlin werde ein Zahlungsrückstand gern als
       Kündigungsgrund genutzt, sagt Marco Rauter: „Und das ist bei unserer
       Klientel gleichbedeutend mit Wohnungslosigkeit. Es ist ja jetzt nicht so,
       dass im Nachbarhaus eine bezahlbare Wohnung wartet. Mit einem
       Schufa-Eintrag oder negativen Scorewert kann man die auch gar nicht
       anmieten.“ Er könne deshalb niemandem raten, es in der Hoffnung auf den
       Härtefallfonds darauf ankommen zu lassen. „Auch wenn man womöglich seinen
       Anspruch verliert.“
       
       Ein Anspruchsverlust wäre vor allem für Schuldner*innen besonders
       bitter. Denn die sind durch die hohen Abschläge nun gezwungen, die
       Abzahlung ihrer Schulden einzuschränken oder ganz einzustellen. „Immer mehr
       Gläubiger schreiben uns an: Ihre Klienten zahlen die Raten nicht mehr“,
       berichtet Rauter. Dann würden die in meist langwierigen Verhandlungen
       getroffenen Vereinbarungen gekündigt. „Und die Klienten kommen zu uns, weil
       sie wieder Mahnungen kriegen.“
       
       Schuldnerberatung in Zeiten der Inflation ist Sisyphosarbeit: Was man heute
       mühsam ausrechne und aushandele, sei morgen wieder passé, schildert Rauter.
       Oft lohne sich eine Verhandlung nicht. „Selbst wenn jetzt 15 Euro übrig
       sind, macht es keinen Sinn, die anzubieten“, sagt er. „Wenn die Kosten
       weiter steigen, brechen diese Vereinbarungen in ein paar Monaten wieder
       zusammen.“ Inflation und Energiekrise schaffen also nicht nur neue
       Schuldnerinnen und Schuldner, sie verhindern auch, dass schon jetzt
       überschuldete Menschen aus den roten Zahlen kommen.
       
       ## Dimensionen erst in den nächsten Jahren abzusehen
       
       Grauel, Rauter und ihre Kolleg*innen rechnen damit, dass spätestens mit
       den Abrechnungen und den daraus resultierenden neuen Abschlägen im Laufe
       des nächsten Jahres eine Welle an Ratsuchenden auf sie zukommen wird. Die
       eigentliche Dimension der jetzigen Krise werde sich in der
       Schuldnerberatung aber erst im Laufe der kommenden Jahre und Jahrzehnte
       zeigen, meint Rauter. „Das ist wie in jeder anderen Krise: jetzt wird erst
       mal versucht, alles privat aufzufangen. Das heißt: vollständige
       Inanspruchnahme des Dispokredits, private Kreditaufnahme in der Familie bis
       hin zur Kündigung der privaten Altersvorsorge.“ Erkrankt man dann, verliert
       seinen Job oder geht in Rente, wird das zur Schuldenfalle.
       
       Problematisch sei auch die bei Geldknappheit häufig in Anspruch genommene
       Möglichkeit von Konsumkrediten, so Rauter: „Etwas schnell im Internet auf
       Raten zu kaufen, ist ja viel einfacher, als bei der Bank einen höheren
       Dispo zu beantragen.“ Das kann gefährlich werden: „Wenn sich diese kleinen
       Raten sammeln, habe ich plötzlich ein Riesenproblem. Und das sind
       Vollprofis, die sofort mit professionellem Inkasso kommen.“
       
       Gleiches gilt für das bargeldlose Zahlen. Wenn man im Supermarkt nur kurz
       die Karte vors Gerät hält und der Bon auch ohne PIN-Eingabe aus der Kasse
       schießt, bedeutet das noch nicht, dass die Rechnung beglichen ist. Es ist
       wie beim Lastschriftverfahren: Kann der Betrag wegen mangelnder
       Kontodeckung nicht abgebucht werden, kommt gleich eine Mahnung, oft vom
       Inkasso-Dienst.
       
       ## Schnell Beratung suchen
       
       In Zeiten großer Geldknappheit ist es also ratsam, seinen Kontostand stets
       im Blick zu behalten. Viele Geldinstitute bieten Apps an, die einen bei
       jeder Zahlung benachrichtigen und über den Kontostand informieren. Noch
       besser sei es aber, mit Bargeld zu zahlen und nach alter Manier ein
       Haushaltsbuch zu führen, so Rauter.
       
       „Wenn die erste Rechnung ins Haus kommt, die man nicht begleichen kann,
       sollte man sich sofort Beratung suchen“, darin sind sich Elisabeth Grauel
       und Marco Rauter einig. Die Beratung ist für alle Bürger*innen
       kostenlos. Neben Ratenvereinbarungen, etwa mit dem Energieversorger,
       verhandeln die Berater*innen auch in Sachen öffentliche und private
       Darlehen. „In der Regel bekommt man innerhalb von drei Wochen einen
       Termin“, sagt Rauter. „Bei existenziellen Fragen wie einer drohenden Gas-
       oder Stromsperre auch am selben oder folgenden Werktag.“
       
       13 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Tipps-zum-Energie-sparen/!5864051
   DIR [2] https://www.verbraucherzentrale-berlin.de/energieschuldenberatung
   DIR [3] /Strom--und-Gaskrise/!5866502
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karlotta Ehrenberg
       
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