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       # taz.de -- Künstlerin über Feminismus und Politik: „Grundsätzlich das Absurde sehen“
       
       > Das Münchner Haus der Kunst zeigt eine Werkschau der 86-jährigen Joan
       > Jonas. Ein Gespräch über ihre Anfangszeit in New York.
       
   IMG Bild: Joan Jonas während ihrer Performance „They Come to Us Withoug a Word II“ 2015 in Venedig
       
       taz: Joan Jonas, Sie sind gerade 86 Jahre alt geworden und machen seit 60
       Jahren Performances. Als Sie damit begannen, waren Sie eine der Ersten, die
       mit verschiedenen Medien und Aufführungspraktiken experimentierten. Wie
       erinnern Sie sich an die Anfangszeit? 
       
       Joan Jonas: Ich habe in den 1950er Jahren Kunst studiert und zuerst als
       Bildhauerin gearbeitet. Als ich Anfang der 1960er Jahre nach New York kam,
       suchte ich nach neuen Ausdrucksformen, einer eigenen Sprache. Wir lebten in
       SoHo, wo in dieser Zeit sehr viele kreative Persönlichkeiten zusammenkamen.
       Künstler*innen, Tänzer*innen, Komponist*innen, Filmschaffende. Wir waren
       befreundet und haben miteinander gearbeitet. Auch Richard Serra hat damals
       Performances gemacht, mit [1][der Musik von Philip Glass]. Steve Reich war
       dabei und die Minimalisten. Es gab da noch keinen Namen für das, was wir
       taten, wir probierten uns aus.
       
       Sie lebten vier Jahre mit Richard Serra zusammen, auch er hat sich mit
       Materialbeschaffenheit, Form, Klang und Bewegung beschäftigt. Gab es
       Konkurrenzgedanken? 
       
       Es fiel mir am Anfang schwer, mich gleichberechtigt als Künstlerin zu
       sehen, dieses Selbstbewusstsein hatte ich nicht. Ich war sehr schüchtern.
       Es war ein Prozess, meine Rollenbilder zu hinterfragen.
       
       Sehen Sie sich als Feministin? 
       
       Ja, unbedingt. Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, hört ja nicht auf. Bis
       heute arbeite ich viel mit Frauen, mit Tänzerinnen, Schauspielerinnen und
       zuerst auch mit einer Kamerafrau, bis ich meine eigene Kamera gekauft habe
       und so die Freiheit hatte, zu experimentieren.
       
       Sie sprechen von der Sony Portapak, die 1965 auf den Markt kam und auch von
       Video-Künstlern wie Nam June Paik verwendet wurde. 
       
       Ja, diese neue Technik hat es mir ermöglicht, unabhängig zu sein. Ich bin
       durch New York gelaufen und habe gefilmt. Verlassene, leere Orte, die ich
       „Holes“ nannte. Diese Verlassenheit, so haben sich viele Künstler*innen
       gefühlt, die damals nach SoHo kamen. Das hatte auch mit der politischen
       Stimmung zu tun, dem Vietnamkrieg, Nixon im Weißen Haus und dem Kampf der
       Bürgerrechtsbewegung.
       
       War diese Politik für Sie präsent? 
       
       Sehr präsent, aber nicht in meiner Arbeit. Wenn ich auf diese Zeit
       zurückblicke, waren viele von uns nach innen gerichtet. Ich war keine
       politische Aktivistin, aber ich hatte ein Bewusstsein und eine Haltung
       dazu. Auch heute noch.
       
       2020 waren Sie in einem mitgebrachten Stuhl zu sehen, wie Sie stundenlang
       in der Schlange vor dem Wahllokal warteten, um gegen Trump zu stimmen. 
       
       Trump ist ein Faschist und narzisstischer Dummkopf. Aber in meiner Arbeit
       spielt er keine Rolle.
       
       Wie haben Sie die achtziger Jahre erlebt, als sich plötzlich niemand mehr
       für Performance und Videokunst interessierte? 
       
       Es war sehr schwer für mich, dass meine Arbeit plötzlich fallen gelassen
       wurde, als wäre sie wertlos. Aber ich habe weitergearbeitet, und in den
       letzten 20 Jahren war es wirklich wundervoll, auf einmal diese Anerkennung
       zu bekommen.
       
       Im äußeren Säulengang des Hauses der Kunst ist Ihre Videoarbeit „Wolf
       Lights“ von 2004 als Loop zu sehen, die im April 2022 einen Monat lang,
       immer kurz vor Mitternacht, auf den Anzeigetafeln am New Yorker Times
       Square gezeigt wurde und in der die Darstellerin vor der Kulisse von Las
       Vegas eine Wolfsmaske trägt. [2][Die Arbeit ist auch ein Verweis auf Dürers
       Kupferstich] „Melencolia I“ von 1514. 
       
       Die Arbeit bezieht sich auf die Wüstenwölfe, die dort lebten, wo heute die
       Glitzerwelt von Las Vegas steht. Es interessiert mich grundsätzlich, das
       Absurde zu sehen und mit Verweisen zu Kunst und Literatur Geschichten neu
       zu erzählen.
       
       Sie verwenden auch Musik und Klangcollagen. In „Wolf Lights“ ist es eine
       Komposition des Jazzpianisten Jason Moran, mit dem Sie seitdem
       zusammenarbeiten. Auch für Ihre Performance „Reanimation“ (2010–2012) über
       das Schmelzen der Gletscher, die jetzt als Video- und Klanginstallation das
       Herzstück der Ausstellung im Haus der Kunst bildet. Wie sind Sie sich
       begegnet? 
       
       Musik war schon immer ein Teil meiner Arbeit und ich verwende verschiedene
       Formen von Musik und Klängen. Der Künstler Adam Pendleton ist ein guter
       Freund von mir und machte mich mit der Musik von Jason bekannt. Für ein
       Projekt mit dem Dia Beacon Museum suchte ich einen neuen musikalischen
       Zugang und Jason sagte sofort zu.
       
       Wo sehen Sie sich selbst im Vergleich zu anderen
       Performance-Künstlerinnen wie Ana Mendieta oder Valie Export, um nur
       einige zu nennen, deren Arbeiten auch physisch sehr viel provokanter sind,
       während Ihre Performances eher lyrisch sind? 
       
       Ich bewundere deren Arbeiten sehr, aber ich glaube nicht, dass wir uns
       überschneiden. Ich wollte immer meine eigene Sprache entwickeln. Der größte
       Unterschied ist meine Distanz zum Publikum und dass ich nicht als ich
       selbst agiere. Ich habe das Gefühl, ich muss mich verwandeln, eine andere
       Person sein. Obwohl meine Arbeit persönlich ist und mit meinem eigenen
       Körper und meinem eigenen Empfinden zu tun hat.
       
       Sie überarbeiten viele Ihrer früheren Arbeiten, wie auch die „Mirror
       Pieces“ von 1969, die jetzt wieder als Performance zu sehen sind. 
       
       Ja, aber irgendwann muss man aufhören und in der Gegenwart bleiben. Ich
       gehe nicht oft zurück, aber gelegentlich. Es interessiert mich, weil sich
       die Bedeutung der Arbeit ändert, wenn man sie in einen anderen Kontext
       stellt.
       
       Sie verwenden manchmal gewalttätige Märchen und Erzählungen, wie in Ihrer
       Installation „Juniper Tree“, die Sie ursprünglich für Kinder entwickelten.
       Kinder sind auch Teil Ihrer Arbeit „They Come to Us Without a Word“, zu
       sehen war sie 2015 im US-Pavillon der Venedig-Biennale. 
       
       Märchen zeigen, dass man Brutalität besiegen kann, Märchen stärken Kinder.
       In Venedig sollte ich die USA repräsentieren, doch wie geht das überhaupt?
       [3][Die USA sind ein sehr vielschichtiges, zerrissenes und auch
       gewalttätiges Land] und ich wollte über meine unmittelbaren Bezugspunkte
       hinausgehen. Auch hier habe ich mit Jason Moran gearbeitet. Es sind die
       Kinder, die mit dieser Welt weiterleben müssen.
       
       Trotzdem wirken Sie optimistisch. 
       
       Nun, man muss überleben. Ich habe eine positive Einstellung zum Leben und
       zu anderen Menschen und tue noch immer das, woran ich glaube. Die Kunst
       hilft mir dabei.
       
       Wie ist es, als Performance-Künstlerin zu altern? 
       
       Ich versuche, humorvoll zu sein und keine pathetische alte Dame. Natürlich
       denke ich oft darüber nach, wie lange ich noch weitermachen kann. Aber
       arbeiten und auftreten, das kann ich noch.
       
       14 Sep 2022
       
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