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       # taz.de -- Abschied von Hartz IV: Inflation frisst Bürgergeld
       
       > Mehr Weiterbildung, weniger Sanktionen: 2023 soll das Bürgergeld Hartz IV
       > ablösen. Der Regelsatz steigt um 50 Euro – zu wenig, sagen
       > Sozialverbände.
       
   IMG Bild: Wenn dir Arbeitsminister Heil (links) erzählt, dass du 53 Euro mehr bekommst – bei 7,9 Prozent Inflation
       
       Berlin taz | Gleich am Mittwochmorgen wird Bundesarbeitsminister Hubertus
       Heil (SPD) im „ZDF-Morgenmagazin“ in die Defensive gedrängt. Er soll sich
       zum neuen Bürgergeld erklären. Der Moderator konfrontiert ihn mit der
       Aussage einer langjährigen Hartz-IV-Bezieherin, die von der geplanten
       Erhöhung um 50 Euro wenig habe angesichts der Inflation und steigender
       Stromkosten.
       
       Heil bleibt ruhig und nickt. „Ich weiß, dass auch das neue Bürgergeld eine
       Grundsicherung ist, die ein Existenzminimum absichert – nicht mehr, aber
       auch nicht weniger“, antwortet er. Dann leitet er über zu all den
       Verbesserungen, die das neue Bürgergeld mitbringen soll: Weniger
       Bürokratie, mehr Weiterbildung, mehr Kooperation, weniger Sanktionen. „Der
       Geist des neuen Systems“ sei der der „Ermutigung und Befähigung“, erklärt
       Heil.
       
       Am Mittwoch hat das Bundeskabinett die Einführung des neuen Bürgergelds
       beschlossen. Heils Gesetzentwurf wird nun im Bundestag beraten. Zum 1.
       Januar 2023 soll das heutige Hartz-IV-System abgelöst werden.
       
       Für die Sozialdemokraten ist die Bürgergeldreform auch ein Stück weit
       politische Traumabewältigung, der endgültige Abschied von Hartz IV. Denn
       mit der Reform soll ein neuer Ansatz gelten: Weniger Härte und Sanktionen,
       dafür mehr Weiterbildungsmöglichkeiten und mehr Geld.
       
       ## SPD lobt sich selbst für 53 Euro mehr
       
       „Das neue Bürgergeld bietet Sicherheit und eröffnet Chancen“, twitterte
       Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch. Es orientiere sich an der
       bevorstehenden Inflationsrate und sei weniger bürokratisch. „Zum 1. Januar
       lassen wir Hartz IV hinter uns“, schrieb der Kanzler. Auch
       [1][Arbeitsminister Hubertus Heil] lobte sich selbst: „Mit dem Bürgergeld
       stärken wir den Sozialstaat und bringen Menschen dauerhaft aus der
       Arbeitslosigkeit.“
       
       Konkret sieht der Gesetzentwurf aus dem Arbeitsministerium Folgendes vor:
       Die Höhe der Sätze wird steigen. Ab 2023 soll der Regelsatz für
       alleinstehende Erwachsene etwa von 449 Euro auf 502 Euro steigen – das sind
       53 Euro mehr. Zudem soll künftig bei der jährlichen Anpassung der
       Regelsätze die Inflation schneller berücksichtigt werden. Bisher wird die
       Inflation nur sehr zeitverzögert berücksichtigt und kann tatsächliche
       Mehrbelastungen kaum ausgleichen.
       
       Doch die grundsätzliche Berechnung des Existenzminimums bleibt unverändert:
       Die Regelsätze orientieren sich an den durchschnittlichen Ausgaben der
       Einkommensschwächsten – zudem werden Ausgaben für „nicht bedarfsrelevante
       Güter“, etwa Zigaretten oder Zimmerpflanzen, herausgerechnet. Diese Methode
       des Kleinrechnens steht seit Jahren in der Kritik.
       
       Eine große Neuerung des Bürgergeldes ist jedoch die Abschaffung des
       sogenannten Vermittlungsvorrangs, der eine Arbeitsaufnahme höher wertet als
       Weiterbildung. In der Praxis bedeutet das oft, dass Menschen in schlecht
       bezahlte Aushilfsjobs gedrängt werden, anstatt die Chance zu bekommen, sich
       weiterzuqualifizieren. Nun soll ein Paradigmenwechsel her: So sieht das
       Bürgergeld ein monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro vor.
       
       Zudem soll vieles unbürokratischer und nachsichtiger werden.
       Bürgergeld-Bezieher*innen sollen in den ersten zwei Jahren in ihrer Wohnung
       bleiben können, auch wenn sie eigentlich zu groß ist. In dieser Zeit dürfen
       auch Ersparnisse bis zu 60.000 Euro behalten werden, für jede weitere
       Person im Haushalt 30.000 Euro mehr. Diese Regelung wurde bereits während
       der Coronapandemie eingeführt und wird jetzt verstetigt. Doch auch nach
       diesen zwei Jahren dürfen Bürgergeldempfänger*innen mehr
       „Schonvermögen“ besitzen als bisher. Zudem sollen die Zuverdienstgrenzen
       erhöht werden.
       
       ## Sanktionen bleiben
       
       Was die Gemüter jedoch am meisten erregt, ist das Thema Sanktionen. Diese
       werden nach dem Gesetzentwurf zwar nicht abgeschafft, aber deutlich
       abgemildert. Im ersten halben Jahr des Bürgergeldbezugs – im Entwurf heißt
       es „Vertrauenszeit“– soll es keine Sanktionen geben, außer bei
       Terminversäumnis. Anschließend kann das Bürgergeld wieder um bis zu 30
       Prozent gekürzt werden. Härtere Sanktionen für unter 25-Jährige werden
       hingegen abgeschafft. Erst vor Kurzem wurde eine [2][Studie des Instituts
       für Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES)] vorgestellt, die zu dem
       Ergebnis kam, dass Sanktionen nicht nachhaltig in Arbeit bringen, sondern
       einschüchtern und krank machen können.
       
       Während Sozialverbände die Sanktionen und vor allem zu niedrige Regelsätze
       kritisieren, polterte etwa der Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer,
       dass die Reform den Anreiz zu arbeiten mindere. Auch die Union kritisierte
       Fehlanreize – es ist der übliche Reflex, Geringverdiener*innen und
       Arbeitslose gegeneinander auszuspielen. „Das Bürgergeld sorgt dafür, dass
       Nichtarbeit deutlich attraktiver wird. Das ist eine Respektlosigkeit
       gegenüber den Arbeitslosen und den Steuerzahlern, die mit ihren Beiträgen
       das Solidarsystem finanzieren“, monierte etwa der arbeitsmarktpolitische
       Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Stephan Stracke. Das bewege sich
       „in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens.“
       
       Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, konterte
       die Kritik. Das Problem seien nicht erhöhte Regelsätze, sondern die geringe
       Bezahlung im Niedriglohnsektor: „Das ist eine deutliche Aufforderung an
       die, die niedrige Löhne bezahlen, dass sie besser bezahlen.“ Man könne
       nicht sagen, „der Hartz-IV-Regelsatz ist jetzt zu hoch und die
       Niedriglöhner haben keinen Abstand mehr.“
       
       Grüne und FDP zeigten sich zufrieden. „Gerade jetzt in einer Krise ist das
       Signal klar: Wir lassen Menschen, die wenig haben, nicht allein“, sagte
       Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann. Jens Teutrine, Sprecher für
       Bürgergeld der FDP-Fraktion, begrüßte ebenfalls das Reformvorhaben. Das
       Bürgergeld schaffe „mehr Fairness und Leistungsgerechtigkeit“. Ziel sei ein
       Sozialstaat, der „Chancen schafft, sich von der Abhängigkeit von
       Sozialleistungen zu befreien.“
       
       Die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Jessica Tatti, zog ein
       gemischtes Fazit: „Es finden sich Licht und Schatten im Gesetzesentwurf,
       das Wichtigste aber fehlt: eine ehrliche Bemessung und Erhöhung der
       Regelsätze.“ Eine Abkehr von Hartz IV kann sie darin nicht erkennen. Tatti
       kritisierte „die miese Kleinrechnerei“ und forderte „einen ehrlich
       berechneten Regelsatz von 687 Euro.“
       
       Die AfD demonstrierte mal wieder, dass sie nicht an der Seite der ärmeren
       Bevölkerungsschichten steht, anders als sie im Zuge der Energiekrise
       vielfach zuletzt behauptete: „Das Bürgergeld nimmt der arbeitenden
       Bevölkerung den Leistungswillen“, behauptete Fraktions-Vize Norbert
       Kleinwächter und vermischte seine sozialdarwinistische Meinung noch mit
       rassistischen Ressentiments: Man mache das Land „zum Fluchtpunkt von
       Wirtschaftsmigranten“, so Kleinwächter.
       
       14 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Arbeitsminister-Heil-zum-Buergergeld/!5878302
   DIR [2] /Hartz-IV-Nachfolger/!5877953
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jasmin Kalarickal
       
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