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       # taz.de -- Chemikerin über Wissenschaftsvermittlung: „Mama ist mein größter Fan“
       
       > Mai Thi Nguyen-Kim erklärt naturwissenschaftliche Themen für Laien in
       > kurzen Videos. Bald beginnt eine neue Staffel ihrer Show.
       
   IMG Bild: Moderatorin Mai Thi Nguyen-Kim 2019 in Köln
       
       taz: Mai Thi Nguyen-Kim, 2016 haben Sie auf Youtube Ihr erstes Video
       [1][„Was passiert, wenn Astronauten rülpsen“] veröffentlicht. Seitdem ist
       viel passiert. Ihr Kanal „maiLab“ ist eine Marke geworden, Ihr Video
       [2][„Corona geht gerade erst los“] hat über sechs Millionen Aufrufe und war
       2020 das erfolgreichste deutsche Youtube-Video. Wie schaffen Sie es,
       wissenschaftliche Erkenntnisse einer breiten Masse schmackhaft zu machen? 
       
       Mai Thi Nguyen-Kim: Mir geht’s immer darum, den methodischen Weg zu einer
       wissenschaftlichen Erkenntnis für alle Menschen nachvollziehbar zu machen.
       Nicht nur die Frage „Was weißt du?“ zu beantworten, sondern „Woher weißt du
       das?“ Wenn man einfach nur einen Fakt hinwirft, gibt es garantiert einen
       anderen Fakt aus dem Netz oder dem Fernsehen, der dem widerspricht. Aus
       Laiensicht steht dann Aussage gegen Aussage. Wissenschaftliche Methodik zu
       erklären, macht meine Beiträge zwar etwas länger, aber ich sehe das als
       eine Art Selbstermächtigung für Laien. So können sie sich ihre eigenen
       Gedanken machen und wandeln nicht völlig orientierungslos in diesem
       Informationschaos herum.
       
       Haben Sie ein Beispiel? 
       
       Wissen wie: Bei einer Impfstoff-Studie brauche ich eine Kontrollgruppe –
       wenn es die nicht gibt, sagt die Studie nicht viel aus. Wenn ja, schon.
       Oder Antidepressiva: Klassischerweise wäre das Studiendesign, mit dem du
       einen Wirkstoff oder ein Medikament testest, eine kontrollierte Studie.
       Eine Gruppe bekommt es, eine nicht. Aber Antidepressiva kommen ja nur zum
       Einsatz, wenn Menschen [3][eine schwere Depression] haben. Aus ethischer
       Sicht wäre es nicht vertretbar, schwer depressive Personen für eine Studie
       eine längere Zeit nicht zu behandeln. Deswegen fehlen uns solche
       kontrollierten Langzeitstudien und damit fehlen uns auch solide
       Erkenntnisse. Das kann jeder Laie nachvollziehen! Solche wissenschaftlichen
       Abläufe sollten Allgemeinbildung werden. Dann würden die Menschen
       vielleicht weniger denken, Wissenschaft hätte immer die eine richtige
       Antwort parat. Und genauso wenig im anderen Extrem: Wissenschaft könne nie
       eine klare Aussage treffen. Beide Extreme stimmen natürlich nicht.
       
       Aber wie bringt man solche Erkenntnisse unter die Leute? Man kann ja nicht
       erwarten, dass nun jeder anfängt, wissenschaftliche Papers zu lesen. 
       
       Eine der großen Herausforderungen in der Wissenschaftsvermittlung besteht
       ja im Kompromiss zwischen Korrektheit und Verständlichkeit. Oft heißt es:
       Um verständlich zu sein, muss ich verkürzen und im Zweifel weniger korrekt
       sein. Und andersrum: Je korrekter und genauer ich werde, desto weniger
       Leute verstehen mich. Das würde dem Bild einer Waage entsprechend irgendwie
       frustrierend. Ich verstehe Wissenschaftsvermittlung lieber als eine
       Zwiebel.
       
       Eine Zwiebel? 
       
       Ja, das ist viel motivierender. Die äußerste Schicht wären Videos auf
       Instagram oder Tiktok: eine Minute Zeit, ein Bild, sehr oberflächlich, aber
       breit zugänglich. Im Innersten der Zwiebel ist die originale,
       wissenschaftliche Veröffentlichung, the real thing sozusagen, aber nur ganz
       wenigen Leuten zugänglich. Jede Schicht der Zwiebel hat ihre Berechtigung
       und medial sollte alles vertreten sein.
       
       Da ich von Haus aus Wissenschaftlerin bin, ist es mein Ziel, Leute
       möglichst tief in die Zwiebel hineinzuziehen. Aber natürlich kann ich nicht
       erwarten, dass jemand sich gleich mühsam zum Kern durchbohrt. Die
       oberflächlichere Vermittlung ist absolut essenziell, um Menschen überhaupt
       erst mal zu erreichen und erstes Interesse zu wecken.
       
       Im Intro Ihres Buchs „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ schreiben Sie,
       Ihrem Vater – wie Sie Chemiker – sei nicht ganz begreiflich gewesen, wie
       „über Wissenschaft Reden“ ein echter Beruf sein soll. Er war besorgt. 
       
       Mein Vater ist ein Old-School-Chemiker. Er hat das Fach studiert und
       arbeitete ganz klassisch als Chemiker. Meine Eltern sind in einer Zeit
       aufgewachsen, in der es das Internet noch nicht gab.
       
       Sieht er das heute anders? 
       
       Absolut! Heute ist meine Mama wahrscheinlich mein größter Fan. Es ist fast
       schon obsessiv, sodass ich sage, ihr könnt euch ruhig auch etwas weniger
       mit mir auseinandersetzen (lacht). Aber es ist auch ganz süß. Ab und zu hat
       mein Papa jetzt Diskussionsbedarf. Politik war bei uns eigentlich nie
       Thema. Durch meine Arbeit sprechen wir nun auch über Wissenschaft, wo sie
       politisch relevant ist. Das ist ganz cool.
       
       Sie sind zwar promovierte Chemikerin, arbeiten nun aber schon seit Jahren
       als Journalistin und Moderatorin. Um jetzt mal Klischees zu bedienen:
       Journalistinnen sind extrovertierte Charismatiker mit Geltungsdrang.
       Wissenschaftlerinnen hingegen gelten eher als zurückgezogene Nerds. Welcher
       Gruppe fühlen Sie sich zugehöriger? 
       
       Ach, im Herzen bin ich schon Wissenschaftlerin. Es ist ganz witzig, wenn
       man im Alltag andere Wissenschaftler trifft, dann gibt es so was wie eine
       „Instant Nerd Connection“. Ob man jetzt Bio oder Physik macht, man teilt
       eine Sicht auf die Welt. Von Claus Kleber wurde ich mal als „Anwältin für
       Fakten und Vernunft“ bezeichnet, das fand ich schön. Ich versuche, all die
       Leute zu vertreten, die die wichtige Arbeit in den Laboren machen, aber in
       den öffentlichen Diskussionen normalerweise unterrepräsentiert sind. Sodass
       Fakten und wissenschaftlicher Konsens Gehör finden. Deshalb fühle ich mich
       sehr wohl in dieser komischen Position zwischen Wissenschaft und Medien.
       
       Sie plädieren auch für mehr Wissenschaftsjournalist:innen in
       politischen Redaktionen. 
       
       Ja, überhaupt in großen Redaktionen. Das Problem ist, in politischen
       Formaten werden immer wieder Fachleute aus der Wissenschaft hinzugezogen
       als diejenigen, die mit Autorität etwas erklären, was nicht zur Debatte
       gestellt wird. Die Journalisten, die sie interviewen, sind selten gut genug
       vorbereitet, um sie kritisch hinterfragen zu können. Als
       Wissenschaftsjournalistin muss ich aber wissenschaftliche Erkenntnisse
       nicht nur übersetzen, sondern auch einordnen. Nicht jeder mit einem
       Professorentitel ist automatisch eine verlässliche Quelle.
       
       Und natürlich gibt es auch unter Wissenschaftlern Interessenskonflikte oder
       andere Motive. Mir könnte man auch vorwerfen, ich will einfach nur mein
       Buch verkaufen. Diese Expertise zum Einordnen fehlt sehr oft in den
       Redaktionen, und so kommen Experten zu Wort, bei denen zu Hause vorm
       Fernseher alle Wissenschaftler kollektiv die Hände vorm Gesicht
       zusammenschlagen, wenn einfach alles stehen gelassen wird, was die sagen.
       
       Sie sprechen manchmal von „Unkrautargumenten“. Was ist das? 
       
       Ein Argument, das sehr viele emotionale Reaktionen hervorruft, deswegen
       viel Aufmerksamkeit bekommt und die komplette öffentliche Diskussion
       überwuchert – sodass man am Ende fast gar nichts mehr sieht. Das Argument
       bringt uns aber nicht weiter, weil es zum Beispiel eine Debatte aufmacht,
       die längst geklärt ist.
       
       Gab es in der öffentlichen Debatte zuletzt ein Unkrautargument, dass Sie
       besonders genervt hat? 
       
       Die immer wieder aufkommende Frage, ob Masken wirklich was bringen. Wir
       können uns gerne darüber unterhalten, zu wie viel Prozent die was bringen,
       oder Coronamaßnahmen politisch diskutieren. Es behauptet ja auch niemand,
       dass Masken eigenhändig die Pandemie beenden. Aber müssen wir uns wirklich
       darüber streiten, ob es das Infektionsrisiko reduziert, wenn ich dir beim
       Niesen nicht ins Gesicht spucke?
       
       In der neuen Staffel der ZDFneo-Sendung „MAITHINK X – Die Show“ greifen Sie
       viele gesellschaftlich umstrittene Themen auf: ob [4][Homöopathie] wirkt,
       ob Atomkraft unsere Energieprobleme lösen kann oder ob man in
       [5][Kryptowährungen] investieren sollte. Gibt es ein Thema, auf das Sie
       sich besonders freuen? 
       
       Ich freu mich zum Beispiel auf die Folge über Kosmetik! Vor zehn Jahren,
       als ich gerade anfing, Youtube-Videos online zu stellen, kamen in
       Interviews mit „älteren“ Medien manchmal Kommentare wie: „Ist ja spannend,
       dass du Videos über Chemie machst, Frauen machen da doch eigentlich nur
       Schmink-Videos!“
       
       Darin zeigt sich nicht nur eine Ignoranz gegenüber Youtube als einer
       ernstzunehmenden Medienplattform, das ist auch ein sexistischer Diss in
       beide Richtungen, sowohl für Chemikerinnen als auch für Frauen, die sich
       gerne schminken. Und vor allem hat natürlich in der Kosmetik alles mit
       Chemie zu tun! Die Herstellung von Naturseife ist ja auch nur eine
       chemische Reaktion. Deswegen freu ich mich über dieses – klischeehaft
       betrachtet – untypische Wissenschaftsthema.
       
       Worum geht es denn genau in der Folge? 
       
       Um [6][„Sciencewashing“], so nenne ich das, analog zum Begriff
       „Greenwashing“: So wie einige Firmen versuchen, möglichst grün dazustehen,
       versuchen viele Kosmetikfirmen, Produkte in ihrer Herstellung möglichst
       wissenschaftlich darzustellen. Diese dreisten Werbemaschen haben wir mal
       durchleuchtet, bei den Firmen nachgefragt und teilweise sehr amüsante
       Antworten bekommen!
       
       15 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=zR2VfdrLrPs
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=3z0gnXgK8Do
   DIR [3] /Neue-Literatur-ueber-psychische-Krankheit/!5867286
   DIR [4] /Homoeopathie-in-Bremen/!5839160
   DIR [5] /Energieverbrauch-von-Kryptowaehrungen/!5876147
   DIR [6] https://labmuffin.com/scientism-or-science-washing-in-beauty/
       
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   DIR Clara Engelien
       
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