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       # taz.de -- Iannis Xenakis auf dem Musikfest Berlin: Stochastische Schönheit
       
       > Vom Komponisten Iannis Xenakis kamen viele Impulse für spätere Musik. Das
       > Musikfest Berlin feiert den Pionier mit mehreren Konzerten.
       
   IMG Bild: Gezeichnet vom Widerstandskampf im Zweiten Weltkrieg: der griechische Komponist Iannis Xenakis
       
       Er ist ein großer Solitär des 20. Jahrhunderts. Der griechische Komponist
       Iannis Xenakis, 1922 in Rumänien geboren und 2001 in Frankreich gestorben,
       hat sich einen Namen in der Nachkriegsmoderne gemacht, ohne einer der
       damals vorherrschenden Schulen anzugehören. Er gab vielmehr selbst Impulse
       für spätere musikalische Entwicklungen. Das Musikfest Berlin feiert ihn in
       seiner aktuellen Ausgabe seit Sonntag mit einem eigenen Schwerpunkt.
       
       Xenakis, ein studierter Ingenieur, kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen die
       Nazis und wurde so schwer im Gesicht verletzt, dass er auf einem Auge blind
       war und eine heftige Narbe davontrug. Nach dem Krieg emigrierte er nach
       Paris. Bevor Xenakis mit musikalischen Konstruktionen bekannt wurde,
       entwarf er als Assistent des [1][Architekten Le Corbusier] verschiedene
       Bauten, darunter den Philips-Pavillon der Brüsseler Weltausstellung 1958.
       
       Seine musikalische Ausbildung begann er parallel, studierte unter anderem
       beim französischen Komponisten Olivier Messiaen. Dieser war ein Pionier der
       seriellen Musik, die den Reihengedanken der Zwölftonmusik Arnold Schönbergs
       aufgriff und auf weitere Parameter ausdehnte. Mit dem Verfahren wurden so
       Tonhöhe, -dauer oder die Lautstärke neu organisiert, was dem Komponieren
       zusätzliche Möglichkeiten eröffnen sollte.
       
       ## Mit naturwissenschaftlich scharfem Blick
       
       Xenakis war ein früher Kritiker dieser Strömung, die ihm zu limitiert
       erschien. Mit naturwissenschaftlich scharfem Blick dachte er die Töne
       vielmehr als Kontinuum des Frequenzspektrums, die nicht auf die zwölf
       üblichen Intervalle beschränkt zu sein brauchen. Auch ließ er sich von der
       mathematischen Stochastik inspirieren, um eigene kompositorische Ansätze zu
       erkunden. Sehr zum Missfallen von Großteilen der „etablierten“ Avantgarde,
       die den eigensinnigen Außenseiter zunächst ausgrenzte.
       
       Man kann Xenakis, wie der Moderne insgesamt, vielleicht vorwerfen, dass
       seine Musik es durch die Emanzipation der Dissonanz an Wohlklang vermissen
       lasse. Was man Xenakis jedoch nicht vorhalten kann, ist, dass seine
       Kompositionen nach nüchternem Zahlenwerk klingen. Musik verlangt, ob
       improvisierter Jazz oder strenge Vielstimmigkeit, stets nach einer
       rationalen Organisation, und Xenakis entfaltet in seinen Werken
       ausgerechnet mit avancierten mathematischen Verfahren eine Wucht, die man
       als entregelt erleben kann.
       
       Einen Vorgeschmack auf diese gebündelte Kraft gab es am Sonntag im
       Kammermusiksaal beim Konzert mit dem Ensemblekollektiv Berlin unter der
       Leitung des [2][Komponisten Enno Poppe]. Da erklang Xenakis’ „Jalons“ für
       15 Instrumente. Elementare Klangflächen reiben darin schroff aneinander,
       Glissandi reißen an den Tönen, wandern durch die verschiedenen
       Instrumentengruppen. Eine geballte Viertelstunde beherrschen diese
       „Pflöcke“, so die Übersetzung des Titels, den Luftraum.
       
       Neben Xenakis war mit der Italienerin Clara Iannotta eine jüngere Kollegin
       im Programm, die mit anderen Mitteln, aber ähnlich unmittelbar zu Werke
       geht. In ihrem „a stir among the stars, a making way“ lassen sich die
       einzelnen Instrumente kaum mehr zuordnen, amalgamieren zu einer fremdartig
       schillernden, sich permanent wandelnden Fläche. Weniger klang-, dafür umso
       mehr rhythmusbetont die [3][Australierin Liza Lim, deren „Machine for
       Contacting the Dead“], das seine deutsche Erstaufführung erfuhr, dazu den
       ergänzenden Gegenpol bildete.
       
       Ganz anders das massive Orchester von „Aïs“ nach Texten von Homer und
       Sappho, das das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vladimir Jurowski
       am Dienstag stemmte. Prasselndes Schlagzeug, vorn eigens als Solist Dirk
       Rothbrust, den entscheidenden Part hat allerdings der Bariton Georg Nigl,
       der von höchstem Falsett bis in tiefstes Bassknarren extreme Lagenwechsel
       absolviert. Von den Worten ist nichts zu verstehen, Nigls Schreien,
       durchsetzt von „Indianerrufen“, teilt sich gleichwohl mühelos jenseits der
       Bedeutung mit.
       
       Den Kammermusiker Xenakis kann man noch einmal am 15. September im
       Kammermusiksaal erleben, wenn das JACK Quartet seine Komposition „Tetras“
       spielt, wieder kombiniert mit einem Werk von Liza Lim, den „String
       Creatures“. Den geräuschhaften Ansatz repräsentiert an dem Abend der
       deutsche Komponist Helmut Lachenmann.
       
       Für den vollen Orchesterklang hingegen bietet sich, ebenfalls am 15.
       September, die Möglichkeit mit den Berliner Philharmonikern und ihrem
       Chefdirigenten Kirill Petrenko. Diese führen Xenakis’ Orchesterstück
       „Empreintes“ auf, in guter Gesellschaft von Bernd Alois Zimmermanns
       „Sinfonie in einem Satz“ und der konzertant aufgeführten Oper „Il
       prigionero“ des Italieners Luigi Dallapiccola.
       
       Man muss übrigens nicht zwischen den beiden Konzerten wählen, da die
       Berliner Philharmoniker ihr Programm noch einmal am Freitag und Sonnabend
       (16. + 17. September) spielen. Und am Sonntag gibt es mit dem Deutschen
       Symphonie-Orchester Berlin unter Robin Ticciati dann etwas völlig anderes:
       den New Yorker Reduktionisten Morton Feldman, Igor Strawinskys
       Violinkonzert und eine Tondichtung von Jean Sibelius.
       
       15 Sep 2022
       
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