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       # taz.de -- Drama „Alle reden übers Wetter“ im Kino: Puhdys oder Schumann?
       
       > Mit präzisem Blick auf unterschiedliche Klassen erzählt Annika Pinske in
       > ihrem Film „Alle reden übers Wetter“ vom Preis für den sozialen Aufstieg.
       
   IMG Bild: Clara (Anne Schäfer) in „Alle reden übers Wetter“
       
       Durchlässig sei die deutsche Gesellschaft, sozialer Aufstieg möglich und
       der Unterschied zwischen Ost und West nach über 30 Jahren nicht mehr
       existent. Zwei Mythen, an denen weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft
       festhalten, vielleicht auch, um sich nicht einzugestehen, welche Missstände
       es noch zu beheben gäbe, wie weit Deutschland von Gleichheit entfernt ist,
       sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den Klassen.
       
       Wie schwer es sein kann, bei ungünstigen Ausgangsbedingungen einen
       gesellschaftlichen Aufstieg anzugehen, davon erzählt Annika Pinske in ihrem
       ersten Langfilm „Alle reden übers Wetter“, keine autobiografische Arbeit,
       aber eine, die ganz deutlich von eigenen Erfahrungen geprägt ist.
       
       Erzählt wird von Clara (Anne Schäfer), Ende 30, Philosophie-Doktorandin in
       Berlin. Wie ein wandelndes Berlin-Klischee wirkt Clara zu Beginn, wie eine
       Variation all jener Menschen in der Hauptstadt, die irgendwas mit Medien
       oder Kunst machen, die im PR-Bereich arbeiten oder sich eben an der Uni von
       einer befristeten Stelle zur nächsten hangeln, immer hoffend, dass
       irgendwann das prekäre Dasein ein Ende hat.
       
       Scheinbar geschmeidig bewegt sich Clara durch die universitäre Welt, hält
       Vorträge über Utilitarismus und Moralphilosophie, ist gegenüber ihrer
       Doktormutter Margot (Judith Hofmann) nicht allzu devot und unterhält eine
       Affäre mit einem Studenten. Dass Clara auf dem Parkett dieser Welt jedoch
       nicht geboren wurde, dass sie sich die Regeln mühsam aneignen musste, wird
       bald deutlich.
       
       Auf elliptische Weise beobachtet Annika Pinske ihre Hauptfigur, lässt den
       Zuschauer über den sozialen Status Claras lange im Unklaren, vor allem aber
       über ihre Herkunft. Bei der Verabschiedung eines Professors lässt sich
       Clara etwa dazu hinreißen, ihren Vater als ehemaligen Diplomaten zu
       schildern, der sich nach der Wende das Leben genommen hat, während ihre
       Mutter ihre Zeit nun mit Malen verbringt.
       
       ## Gegensätze ausgestellt
       
       Was ganz und gar nicht der Wahrheit entspricht. Allein, dass sie aus dem
       Osten kommt, stimmt. Wie weit die Welt ihrer Herkunft von der der Berliner
       Uni-Welt entfernt ist, wird in der zweiten Hälfte des Films deutlich. Zum
       60. Geburtstag ihrer Mutter Inge (Anne-Kathrin Gummich) fährt Clara
       zusammen mit ihrer 15-jährigen Tochter Emma (Emma Frieda Brüggler) – deren
       Existenz wie so vieles in „Alle reden übers Wetter“ ganz beiläufig
       eingestreut wurde – in die Provinz.
       
       Während Annika Pinske aus Frankfurt (Oder) stammt, wuchs Clara in einem
       Dorf in Mecklenburg-Vorpommern auf, doch die Ähnlichkeiten in den
       Lebenswegen sind deutlich. Bloß geht es Pinske nicht einfach um eine
       Gegenüberstellung von Land und Stadt, von Provinz und Hauptstadt, von Ost
       und West, auch wenn Gegensätze manchmal überdeutlich ausgestellt werden:
       Hier Bier aus Plastikbechern, dort Champagner aus Gläsern mit Goldrand,
       hier die Puhdys aus dem Autoradio, dort Schumann am Klavier.
       
       Als sie gefragt wird, worüber sie denn in ihrer Promotion schreibt,
       antwortet Clara: „Über Hegels Theorie der Freiheit, genauer gesagt den
       Begriff der Intersubjektivität in Hegels Konzeption von Familie und
       bürgerlicher Gesellschaft.“ Was sich im ersten Moment wie ein
       parodistischer Seitenhieb auf all die an deutschen Unis verfassten Arbeiten
       anhört, die geschrieben werden, um auf Nimmerwiederlesen im Regal zu
       verstauben, führt zum Kern von „Alle reden übers Wetter.“
       
       Wie lassen sich unterschiedliche Erwartungen in Einklang bringen, gerade
       als Frau, gerade als Ostdeutsche? In ihrem Heimatdorf wird Clara wie eine
       verlorene Tochter begrüßt, ein bisschen Stolz schwingt mit auf die eine,
       die es geschafft hat rauszukommen, etwas aus sich zu machen. Aber reicht
       das, um glücklich zu sein? In Marcel (Max Riemelt) trifft Clara einen
       Ex-Freund, der alle klassischen Ziele seiner Schicht erreicht hat: Baum
       pflanzen, Haus bauen, Kind bekommen. Nun ist er 40, betreibt die lokale
       Kneipe und fragt sich, ob da noch was kommt.
       
       Und so geht es auch Clara, die vom Wunsch geleitet ist, sich aus ihrer
       scheinbar kleinen Welt zu befreien. Größtenteils hat sie das geschafft,
       doch in ihrer neuen Welt, unter der universitären Glocke in Berlin,
       herrschen andere Zwänge, werden nicht etwa weniger Vorurteile und Klischees
       gepflegt als in der Mecklenburg-Vorpommerschen Provinz, sondern nur andere.
       
       Wie schwer es fällt, diese Klischeevorstellungen abzustreifen, selbst wenn
       man sich beruflich mit ihnen auseinandersetzt, erkennt Clara im Umgang mit
       ihrer Mutter. Die lebt in einer Platte, könnte eigentlich noch arbeiten,
       aber findet keine Stelle mehr, löst Kreuzworträtsel – und ist doch ganz
       zufrieden mit ihrem Leben. „Sagst du das jetzt nur, weil ich das hören
       will“ fragt Clara einmal ihre Mutter, um am Ende selbst zu erkennen, dass
       sie vielleicht selbst lange Jahre so gelebt hat, wie sie geglaubt hat, dass
       sie es müsste. In einer Gesellschaft zu leben, die jegliche Freiheit
       ermöglicht, bedeutet eben nicht automatisch, tatsächlich frei und ohne
       Zwänge leben zu können.
       
       15 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Meyns
       
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