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       # taz.de -- Chile nach dem Verfassungsreferendum: Nach dem Nein
       
       > In Chile scheiterte der erste Entwurf für eine neue Verfassung. Für den
       > nächsten Anlauf steht der linke Präsident Gabriel Boric unter Druck.
       
   IMG Bild: Demonstration in Chile für einen neuen verfassungsgebenden Prozess
       
       Santiago de Chile taz | Hunderte Schüler*innen ziehen am Donnerstag in
       ihren blau-weißen Uniformen über die Alameda, die achtspurige Straße im
       Zentrum von Chiles Hauptstadt Santiago. Sie haben Regenschirme aufgespannt,
       es ist ein grauer Tag. „Wir sind wieder auf der Straße – die chilenische
       Bildung wird nicht verkauft, sie wird verteidigt“, rufen sie.
       
       Unweigerlich fühlt man sich an einen Tag im August 2011 erinnert, als der
       heutige Präsident Gabriel Boric gemeinsam mit Camila Vallejos und Giorgio
       Jackson – heute seine Minister*innen – über dieselbe Straße lief mit
       derselben Forderung: Ein gerechtes Bildungssystem. Die Privatisierungen im
       Bildungsbereich haben ihren Ursprung in der Pinochet-Diktatur und in der
       bis heute gültigen Verfassung von 1980, die Reformen verhindert.
       
       Die Schüler*innen sind heute aus einem bestimmten Grund auf den Straßen:
       „Wir wollen eine neue verfassungsgebende Versammlung, die vom Volk gewählt
       wird“, sagt die 16-jährige Sofía Vallejos. „Und wir Schüler*innen wollen
       an dem Prozess teilnehmen, damit öffentliche, kostenlose und gute Bildung
       in der Verfassung garantiert wird.“
       
       Es ist der vierte Tag nachdem eine Mehrheit von 62 Prozent bei einem
       Referendum den Entwurf für eine [1][neue Verfassung abgelehnt hat], den
       eine demokratisch gewählte Versammlung ausgearbeitet hatte. Die Verfassung
       hätte Grundrechte wie Bildung, Gesundheit, Altersversorgung und Pflege
       garantiert, und die Rechte von Frauen, Queers und Indigenen gestärkt.
       
       ## Landesweite Revolte
       
       Angestoßen hatte den verfassungsgebenden Prozess eine landesweite Revolte
       2019 und 2020, die durch Proteste von Schüler*innen gegen eine
       Fahrpreiserhöhung der U-Bahn in der Hauptstadt ausgelöst worden war. Fast
       zwei Jahre später demonstrieren die Schüler*innen wieder in den
       U-Bahn-Stationen.„Evasiones“ nennen sie die Aktionen des kollektiven
       Schwarzfahrens.
       
       „So wollen wir der Regierung Druck machen, “ sagt die Schülerin Sofía
       Vallejos. „Wir sind traurig und wütend über das Ergebnis des Referendums“.
       Die 16-Jährige glaubt, ein Grund für die Ablehnung war der fehlende Zugang
       zu Informationen über die Verfassung. Beim Verfassungsreferendum herrschte
       zum ersten Mal seit 2012 Wahlpflicht. Insbesondere Menschen aus armen
       Verhältnissen stimmten gegen die neue Verfassung. „Die sozialen
       Organisationen haben es nicht geschafft, diese Menschen zu erreichen“, sagt
       Vallejos.
       
       Eine dieser Organisationen ist die Coordinadora Feminista 8M, Chiles größte
       feministische Dachorganisation. Sie war eine treibende Kraft im
       Verfassungskonvent. Gemeinsam mit anderen Feministinnen in der Versammlung
       hatte sie es geschafft, zahlreiche feministische Inhalte durchzusetzen: die
       Anerkennung von Haus- und Sorgearbeit, sexuelle und reproduktive Rechte,
       Geschlechterparität in staatlichen Institutionen. Sie hatten damit
       gerechnet, dass vornehmlich junge Frauen und Queers für den
       Verfassungsentwurf stimmen würden.
       
       Aber das Gegenteil geschah: Knapp 58 Prozent der Frauen unter 34 stimmten
       gegen die Verfassung, die ihre Rechte garantiert hätte. „Wir haben im
       Moment mehr Fragen als Antworten“, sagt Bárbara Lagos, Sprecherin der
       Coordinadora Feminista 8M. Auch Lagos glaubt, dass die
       Desinformationskampagne in sozialen Netzwerken und im Fernsehen eine große
       Rolle gespielt hat. „Wenn du dich desinformieren wolltest, brauchtest du
       nur den Fernseher anzumachen, aber wenn du dich über die Verfassung
       informieren wolltest, brauchtest du eine engagierte Freundin.“
       
       ## Versammlung als „Zirkus“ diffamiert
       
       Die Rechten, die weniger als ein Drittel der Sitze im Verfassungskonvent
       erhalten hatten und deshalb kaum Einfluss auf den Entwurf nehmen konnten,
       begannen mit ihrer Gegenkampagne schon im Juli 2021. „Wir sozialen
       Bewegungen haben uns vollkommen darauf konzentriert, einen guten Text
       auszuarbeiten“, sagt die Aktivistin. Ihre Kampagne begann erst ein Jahr
       später, als der Text fertig war.
       
       Aber da war bei vielen schon die Entscheidung gefallen, gegen die
       Verfassung zu stimmen. Die Desinformationskampagne hatte sich ein Jahr lang
       gegen die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung gerichtet, sie als
       „Zirkus“ bezeichnet. Später kamen Lügen über die Inhalte hinzu: [2][Verbot
       von Hauseigentum, Enteignungen der Rentenfonds, indigene Sonderrechte.] Es
       wurden sogar gefälschte Verfassungstexte auf den Straßen verteilt.
       
       Über umgerechnet zwei Millionen Euro Wahlspenden erhielt die Kampagne der
       Gegner*innen der Verfassung, mehr als viermal so viel wie die
       Befürworter*innen. Denn chilenische Unternehmer*innen und
       internationale Investoren standen dahinter. Die chilenischen Aktienkurse
       stiegen am Tag nach dem Referendum auf historische Höchstwerte.
       
       Die Rechten feierten das Wahlergebnis als ihren Sieg. Ebenso das Zentrum:
       Die Organisation Amarillos por Chile, zu der mehrere Politiker*innen
       der ehemaligen Concertación gehören, der Mitte-links-Koalition, die Chile
       nach dem Ende der Pinochet-Diktatur regierte, war eine der treibenden
       Kräfte hinter der Kampagne gegen die Verfassung. Nun nutzen sie das
       Wahlergebnis, um Druck auf die Regierung von Gabriel Boric auszuüben. Ihre
       Interpretation: Der Verfassungsentwurf war zu links und zu radikal.
       
       ## Schwere Zeiten für den linken Präsidenten
       
       Am Wahlabend sagte Präsident Boric, es müsse ein neuer Verfassungsentwurf
       ausgearbeitet werden, der „uns als Land eint jenseits von Maximalismus,
       Gewalt und Intoleranz gegenüber derjenigen, die anders denken“. Einen Tag
       später vollführte er einen Kabinettswechsel, setzte mehrere
       Minister*innen der ehemaligen Concertación ein, während die
       Kommunistische Partei, die Teil der Regierungskoalition ist, Posten
       einbüßen musste.
       
       Auf den linken Präsidenten Boric kommen schwere Zeiten zu, er brauchte eine
       neue Verfassung, um sein Regierungsprogramm umzusetzen. Er brauchte die
       neue Verfassung, um sein Regierungsprogramm umzusetzen, da die derzeit
       gültige Verfassung strukturelle Reformen verhindert. Die Zukunft seiner
       Regierung hängt von der Zustimmung im Parlament ab und dort hat seine
       Koalition Apruebo Dignidad keine Mehrheit.
       
       Die Rechten haben mehr als ein Drittel der Sitze im Kongress und sogar die
       Hälfte im Senat. Boric, der mit dem Versprechen angetreten war, den
       Neoliberalismus zu begraben, wird viele Kompromisse eingehen müssen.
       
       Am Mittwoch rief Boric das erste parteiübergreifende Treffen in Valparaíso
       ein, um über den neuen verfassungsgebenden Prozess zu verhandeln. Vertreter
       der Zentrumsparteien schlugen vor, einen neuen Verfassungskonvent zu
       wählen, Rechte forderten eine Expertenkommission, die Kommunistische Partei
       will den abgelehnten Entwurf als Grundlage für den neuen Prozess nutzen. Am
       Montag findet eine neue Verhandlungsrunde statt – hinter verschlossenen
       Türen.
       
       ## Plan für die Zukunft
       
       „Sie haben es geschafft, diesen Prozess, der von unten begonnen hat, von
       oben zu schließen“, sagt Bárbara Lagos. „Jetzt müssen sie sich nicht um die
       Forderungen der sozialen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte kümmern.“
       
       Aber auch die sozialen Bewegungen hätten auch etwas gewonnen: „Wir haben
       gemeinsam eine feministische Verfassung erarbeitet, wir haben einen Plan
       für die Zukunft. Wir wissen genau, was wir wollen“, sagt sie. [3][„Das
       Ergebnis des Referendums war eine Wahlniederlage, aber es war nicht die
       Niederlage eines Projekts.“]
       
       Am Wochenende trifft sich die Coordinadora Feminista 8M zur
       Generalversammlung, um ihr Vorgehen zu planen. Und die Schüler*innen?
       Die wollen weiter protestieren. „Angesichts eines Volks ohne Erinnerung
       schreiben wir Schüler*innen Geschichte, mit Kampf und Organisation“,
       heißt es auf einem ihrer Spruchbänder.
       
       10 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sophia Boddenberg
       
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