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       # taz.de -- Arbeitsminister Heil zum Bürgergeld: „Wege aus dem System eröffnen“
       
       > Ab 2023 kommt das neue Bürgergeld. Arbeitsminister Hubertus Heil erklärt,
       > warum das Modell für ihn eine Abkehr von Hartz IV bedeutet.
       
   IMG Bild: Landet mit dem Bürgergeld wieder mehr im Einkaufswagen?
       
       taz: Herr Heil, das Bürgergeld soll ab Januar 2023 bei 500 Euro liegen – 50
       Euro höher als jetzt. Wie hoch genau? 
       
       Hubertus Heil: Das werden wir in den nächsten Tagen klären. Aber es wird
       diese Dimension haben. Damit wird es der größte Sprung sein, seitdem es die
       Grundsicherung gibt.
       
       50 Euro gleicht nur die Inflation aus. Wenn Bürgergeld mehr als ein schöner
       Name sein soll – muss es dann nicht höher liegen? 
       
       Wir verändern den Anpassungsmechanismus dauerhaft. [1][Das Bürgergeld] wird
       der Inflation nicht mehr hinterherhinken, sondern vorab angepasst. Ab 2023
       werden die Regelsätze damit die aktuellen Preissteigerungen abbilden. Und
       wir machen mit dem Bürgergeld eine umfassende Sozialreform. Wir nehmen den
       Menschen die Angst vor dem Verlust des Wohnraums, indem wir bei der Nutzung
       des Wohneigentums großzügiger werden. Zudem wird, wer Bürgergeld bekommt,
       mehr von seinem Ersparten behalten können. Damit respektieren wir die
       Lebensleistung.
       
       Die Sozialverbände kritisieren trotzdem, dass 500 Euro zu wenig sind. Und
       Sie sagen, das reicht? 
       
       Der Regelsatz im Bürgergeld deckt mit etwa 500 Euro das Existenzminimum ab.
       Hinzu kommen Wohn- und Heizkosten. Aber [2][das Bürgergeld ist zusätzlich
       besser und großzügiger als das alte Hartz-IV-System]. Wir schaffen starke
       finanzielle Anreize für Weiterbildung und das Nachholen eines
       Berufsabschlusses. Es gibt Weiterbildungsprämien bis zu 150 Euro pro Monat.
       Dieser Anreiz ist wichtig, weil zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen keine
       abgeschlossene Berufsausbildung haben und nur durch Qualifizierung der Weg
       aus der Bedürftigkeit in Arbeit eröffnet werden kann.
       
       Wir zahlen außerdem seit dem Sommer einen Kindersofortzuschlag von 20 Euro
       pro Kind, um bedürftige Familien zu entlasten, und wir haben
       Einmalzahlungen durchgesetzt. Hinzu wird die Kindergrundsicherung kommen.
       Aber die Qualität des Sozialstaats bemisst sich nicht allein an der Höhe
       des sozialen Transfers. Der Sozialstaat muss, wo immer es geht, ein
       selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Mein Ziel ist es nicht, Bedürftigkeit
       zu verwalten, sondern wo immer es geht Wege aus dem System zu eröffnen.
       
       Die Sozialverbände fordern, die Bemessungsgrundlage des Regelsatzes zu
       erweitern… 
       
       Es ist kein Geheimnis, dass ich mir das hätte vorstellen können. Aber
       wichtig bleibt, das wir einen Weg für eine deutliche Regelsatzerhöhung
       gefunden haben. Das hilft Menschen konkret.
       
       Warum werden die Stromkosten, wie jetzt schon die Heizkosten, nicht
       automatisch übernommen? 
       
       Bei den Stromkosten hätte das bedeutet, diese Summe künftig vom Regelsatz
       abzuziehen. Der wäre somit gekürzt worden. Das fand ich keine gute Idee.
       Durch den neuen Anpassungsmechanismus werden aber auch steigende
       Strompreise berücksichtigt.
       
       Viele Frauen beziehen Grundsicherung. Warum heißt das Bürgergeld nicht
       Bürger:innengeld? 
       
       Man kann es auch Bürger:innengeld nennen. Das ist nicht entscheidend.
       
       Auch wenn es nicht entscheidend ist, könnten Sie es doch offiziell so
       nennen, oder? 
       
       Meine Priorität ist, dass wir Hartz IV überwinden und zum 1. Januar 2023
       für [3][eine grundlegende Veränderung] sorgen. Der Sozialstaat wird damit
       für alle Bürgerinnen und Bürger fairer und unbürokratischer. Ich hätte auch
       nichts gegen eine geschlechtergerechtere Sprache in Gesetzen. Juristinnen
       und Juristen weisen aber darauf hin, dass wir derzeit an das sogenannte
       Handbuch der Rechtsförmlichkeit für die Benennung von Gesetzen gebunden
       sind. Konkret beim Bürgergeld heißt das: Sparschreibungen wie großes I oder
       Genderstern entsprechen derzeit nicht den Anforderungen an die
       Rechtsförmlichkeit. Das kann man doof finden und vielleicht auch eines
       Tages ändern.
       
       CSU-Mann Markus Söder kritisiert, dass wer nicht arbeiten wolle, gar „nicht
       mehr gefragt werde, ob er arbeiten kann“. Was antworten Sie Herrn Söder? 
       
       Das ist falsch. Ich glaube auch, dass er den Gesetzentwurf gar nicht kennt
       und auch wenig Ahnung von der Lebensrealität von Menschen in der
       Grundsicherung hat. Das ist der Versuch, mit dumpfen Gefühlen Bedürftige
       gegen Geringverdiener auszuspielen und an niedere Instinkte zu appellieren.
       Gerade in Zeiten von Putins Angriffskrieg müssen wir unsere Gesellschaft
       insgesamt zusammenhalten und nicht mit solchen Sprüchen spalten.
       
       Dieses Jahr werden Arbeitskräfte gesucht, es gibt genug Jobs. Nimmt damit
       der Druck auf Bürgergeldempfänger zu – siehe Söder? 
       
       Das Bürgergeld eröffnet vor allen Dingen neue Chancen, um
       Langzeitarbeitslose dauerhaft in Arbeit zu bringen. Das Hartz-IV-System
       führt dazu, Menschen ohne Berufsabschluss in Hilfsjobs zu bringen, und das
       Jobcenter sieht viele davon nach kurzer Zeit wieder. Mit dem Bürgergeld
       entfällt diese Regelung, sodass Menschen die Möglichkeit haben, durch
       Qualifizierung dauerhaft aus der Bedürftigkeit zu kommen. Das leistet auch
       einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel.
       
       Das Entlastungspaket enthält sehr viele Einzelmaßnahmen. Wieso keine große
       Maßnahme – etwa 100 Euro im Monat für alle, bis zu einer bestimmten
       Einkommensgrenze? 
       
       Wir helfen Bedürftigen und entlasten gezielt auch die Beschäftigten mit
       normalen und kleinen Einkommen. Das reformierte Wohngeld wird zwei
       Millionen Menschen helfen, dreimal so vielen wir bisher. Der Mindestlohn
       von 12 Euro, der am 1. Oktober kommt, ist eine Lohnerhöhung von 22 Prozent…
       
       …die zum Teil von der Inflation aufgefressen wird. Und die Inflation trifft
       Niedrigverdiener viel härter als Besserverdiener. 
       
       Deshalb entlasten wir zusätzlich zum Mindestlohn von 12 Euro alle, die
       weniger als 2.000 Euro verdienen bei Sozialversicherungsbeiträgen, ohne
       dass sie sozialen Schutz verlieren. Wir erhöhen das Kindergeld und den
       Kinderzuschlag und zahlen eine Energiepauschale von 300 Euro nicht nur an
       Arbeitnehmer und Selbständige, sondern auch an Rentner, Fachschüler und
       Studierende. Und wir schaffen die Möglichkeit für steuer- und
       sozialversicherungsfreie Einmalzahlungen von bis zu 3.000 Euro von
       Unternehmen an Beschäftigte.
       
       Eine vierköpfige Familie zahlt, Hilfen der Regierung eingerechnet, im
       Schnitt fast 300 Euro mehr für Gas im Monat. Warum keine Entlastung beim
       Gaspreis? 
       
       Angesichts der Tatsache, dass Putin Gaslieferungen als Waffe einsetzt, hat
       die Bundesregierung erhebliche Anstrengungen unternommen, um die
       Gasversorgung in diesem Winter für Verbraucher und Wirtschaft zu sichern.
       Ohne, dass es zu Rationierungen kommt. Die Entlastungen helfen, gestiegene
       Kosten abzufedern, gleichzeitig wird an Maßnahmen gearbeitet, auch den
       Gaspreis zu senken und durch eine neue Marktordnung den Anstieg der
       Stromkosten zu bremsen.
       
       Eine Rezession steht bevor. Um die zu mildern, braucht es kräftige, klare,
       kurzfristige Maßnahmen. Jetzt müssen die Leute erst mal Tabellen studieren,
       um zu verstehen, was sich ändert. 
       
       Das Signal ist klar: Wir bringen unser Land wirtschaftlich und sozial durch
       schwierige Zeiten. Neben den Entlastungspaketen von insgesamt fast 100
       Milliarden Euro ergreifen wir auch wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische
       Maßnahmen. Robert Habeck hat einen Schutzschirm für mittelständische
       Unternehmen angekündigt. Und ich sorge dafür, dass sich Beschäftigte und
       Unternehmen in diesen unsicheren Zeiten weiter auf das bewährte System der
       Kurzarbeit verlassen können.
       
       Rentner bekommen einmalig 300 Euro. Warum nicht nur Ärmere, die es
       brauchen? 
       
       Das administrativ auszudifferenzieren, hätte gedauert. Wir wollten aber
       schnell helfen. Und es gibt ja eine Verteilungskomponente. Wohlhabendere
       müssen auf diese 300 Euro Steuern zahlen. Ärmere nicht.
       
       Wie tief ist diese Krise? 
       
       Ich habe einige Krisen in meinem politischen Leben erlebt. Diese Krise ist
       größer und länger. Die gesellschaftliche Gesamtstimmung ist angespannt,
       viele Menschen haben existenzielle Sorgen. Das sind verdammt harte Zeiten.
       
       Sie wollen ein neues Einwanderungsgesetz mit einer Chancenkarte für
       Arbeitsmigration schaffen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ein Handwerker aus
       dem Libanon lebt in Deutschland und will seinen Cousin aus Beirut holen.
       Der kann kein Deutsch, arbeitet als Tischler und hat eine im Libanon
       anerkannte Ausbildung. Kann der künftig kommen? 
       
       Wir haben vier Kriterien entwickelt, von denen drei erfüllt sein müssen. Er
       muss eine im Ausland anerkannte Ausbildung haben, Berufserfahrung, deutsch
       können und jünger als 35 Jahr sein. Wenn dieser Cousin drei davon erfüllt,
       kann er in Deutschland arbeiten. Aber der alleinige Fokus auf Einwanderung
       ist falsch.
       
       Warum? 
       
       Weil wir Fachkräftesicherung auch im Inland brauchen. Die
       Erwerbsbeteiligung von Frauen muss höher werden. Wir ergreifen zusätzliche
       Maßnahmen bei Aus- und Weiterbildung. Wenn wir all diese Register im Inland
       gezogen haben, brauchen wir trotzdem ergänzend qualifizierte Zuwanderung.
       
       Inland first, Migration second? 
       
       Nein, wir brauchen beides gleichzeitig. Wir werden eines der modernsten
       Einwanderungsgesetze der Welt schaffen, unbürokratisch und mit schneller
       Berufsanerkennung. Aber auch das wird nur funktionieren, wenn zügig genug
       Visa erteilt werden. Wir brauchen eine andere Haltung zur Einwanderung. Wir
       müssen sie wollen, nicht nur hinnehmen. Ich bestehe bei Arbeitsmigration
       allerdings auf einer Bedingung: Zuwanderung darf nicht zu Lohndrückerei
       führen. Das würde die Akzeptanz zerstören für die notwendige qualifizierte
       Zuwanderung in Deutschland. Und das werden wir nicht zulassen.
       
       9 Sep 2022
       
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