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       # taz.de -- Zeitreise ins Westberlin der 1960er: Weg mit dem Elend
       
       > Den Menschen in Westberliner Mietskasernen wurde Licht, Luft und Sonne
       > versprochen. Heinrich Kuhn fotografierte vor der geplanten
       > Kahlschlagsanierung.
       
   IMG Bild: Und wieder eins weniger: Abrissarbeiten in Westberlin, hier in Neukölln, etwa 1963 aufgenommen
       
       Berlin taz | Manche der Fotografien von Heinrich Kuhn sind schwer zu
       ertragen. Eine Küche, in der Wäsche zum Trocknen hängt, weil woanders kein
       Platz ist. Oder der alte Mann in einer Stube, die langsam zumüllt. Hilflos
       steht er da und weiß nicht, wo anfangen.
       
       Aus dem Jahr 1963 stammen die Fotos. Mitten im Wirtschaftswunder scheint
       es, als wäre Heinrich Zilles beißende Kritik der [1][Mietskasernenstadt]
       Berlin immer noch gültig: „Man kann mit einer Wohnung einen Menschen
       genauso töten wie mit einer Axt.“
       
       Aber Heinrich Kuhn ist nicht Heinrich Zille. Kuhn fotografiert nicht, weil
       er anklagen möchte, sondern weil er einen Auftrag hat. Er soll das Elend in
       den Berliner Mietskasernen ein letztes Mal festhalten. Denn eine Lösung ist
       in Sicht. Willy Brandt als Regierender Bürgermeister von Westberlin hatte
       in seinem Stadterneuerungsprogramm von 1963 die Parole der Weimarer
       Republik aufgegriffen und Licht, Luft und Sonne versprochen. Abriss und
       Neubau ist die Losung dieser Tage. Heute nennt man sie Kahlschlagsanierung.
       Heinrich Kuhn hat den Auftrag, diese Sanierung zu dokumentieren.
       
       Bevor die Abrissbagger kommen, macht sich Kuhn noch einmal auf den Weg.
       Durchstreift das Gesundbrunnenviertel im Berliner Wedding oder die Gegend
       um das Kottbusser Tor in Kreuzberg. Beide Quartiere haben gemeinsam, dass
       sie in unmittelbarer Nähe der Mauer liegen, die die Machthaber im Osten
       zwei Jahre zuvor hochgezogen haben. Nun sind der Wedding und Kreuzberg
       Zonenrandgebiet. Wer kann, wandert ab. Zurück bleiben die Ärmsten.
       
       ## Kuhn lässt sich die Geschichten erzählen
       
       Heinrich Kuhn hat Mitleid mit ihnen. Nicht nur als Fotograf ist er
       unterwegs, sondern auch als Zuhörer. Er lässt sich die Geschichten
       erzählen, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Zu Hause im
       bürgerlichen Wilmersdorf, berichtet er „ganz konkret von Ratten, die
       abgestellte Kinderwagen belauerten, und allgemein von der Scham der
       Bewohner, dem Fotografen ihre Wohnungen zugänglich zu machen und so ihre
       Armut endgültig zu offenbaren“. Das schreibt Boris von Brauchitsch in einem
       biografischen Essay über Kuhn im 2017 [2][bei Bebra erschienenen Buch
       „Licht, Luft und Luxus“].
       
       Eigentlich will der 1918 geborene Heinrich Kuhn Kameramann werden. Doch
       dann beginnt der Krieg, und Kuhn muss seine Ausbildung bei der Ufa
       abbrechen. Als er 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt,
       arbeitet er als Industrie- und Modefotograf. Auch beim Besuch von John F.
       Kennedy am 26. Juni 1963 ist er dabei. Die Welt des Glamours ist ihm
       vertraut.
       
       Die des Elends lernt er kennen. Und auch die Zerrissenheit der Menschen,
       die dieses Elend bewohnen. Mit ihren Wohnungen verlassen sie nicht nur
       Enge, Schimmel und Toiletten auf dem Hof, sondern auch ihre vertraute
       Umgebung. Von den Mietskasernen ziehen sie ins Neubaughetto.
       
       ## Brandt plädiert für Totalabriss
       
       56.000 Wohnungen in den Gründerzeitquartieren von Wedding, Kreuzberg,
       Tiergarten und Neukölln will [3][Willy Brandt] abreißen lassen. Was der
       Krieg nicht geschafft hat, schafft die Sozialdemokratie. Noch in den
       fünfziger Jahren hatte es geheißen, die Mietskasernen sollen entkernt und
       saniert werden. Brandt dagegen plädiert für eine autogerechte Stadt und
       Totalabriss, um „unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte ein
       Maximum an städtebaulichem Effekt“ zu erzielen.
       
       Für die Menschen, die Kuhn fotografiert, heißt das Umzug in die riesigen
       Baustellen der Neubaugebiete im Märkischen Viertel und der Gropiusstadt,
       aber auch dem „neuen“ Gesundbrunnen. Auch die Neubauten fotografiert
       Heinrich Kuhn. Nicht die Schattenseiten der Großsiedlungen zeigt er,
       sondern quietschbunte Fassaden. Spätestens da stellt sich die Frage: Was
       ist Dokumentation, was Propaganda? Soll Kuhn mit dem Elend, das er zeigt,
       sogar die Kahlschlagsanierung medial vorbereiten helfen?
       
       Wenn, dann ist er damit nur bedingt erfolgreich. Wenige Jahre nach den
       Abrissen kommen die Hausbesetzer. Doch das ist eine andere Geschichte, die
       von anderen Fotografen dokumentiert wurde.
       
       10 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Mietskaserne
   DIR [2] http://www.borisvonbrauchitsch.de/autor/bucher-uber-berlin/licht-luft-und-luxus/
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Willy_Brandt
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
       ## TAGS
       
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