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       # taz.de -- Weinernte in Frankreich: Santé l'Europe!
       
       > Die Arbeit im Weinberg ist Herausforderung und Tortur zugleich. ​Plädoyer
       > für einen freiwilligen Ernteeinsatz.
       
   IMG Bild: Weinernte
       
       Menschen, die in meiner westfälischen Kleinstadtjugend zur Weinernte nach
       Frankreich aufbrachen, waren auch sonst ziemlich anders. Furchtloser,
       robuster, ruppiger, vierschrötiger. Im überschaubaren Cliquen-Kosmos jener
       Provinzjahre zählte ich zwar zum gleichen Alternativmilieu wie sie, konnte
       in Sachen Stehvermögen und Weltwissen aber kaum mit ihnen mithalten.
       Während sich unsereiner zwecks Ferienfinanzierung in die örtliche
       Papierfabrik zwang, pilgerten sie aus freien Stücken alljährlich in den
       Süden, um für kleinstes Geld den Rücken krumm zu machen. Und während ich in
       der Fabrik ahnte, dass körperliche Lohnarbeit vor allem Plackerei ist, die
       es besser zu vermeiden gilt, und mich auf sogenannt staubfreie
       Erwerbsquellen wie Nachhilfe und Lokalzeitungstexte verlegte, schwärmten
       sie von den Freuden des Weinbergs und der Schönheit der Provence.
       
       Manche fuhren, wenn alles abgeerntet war, weiter nach Spanien und Marokko.
       Daheim galten sie mitunter als vermisst, tauchten Monate später mit einem
       Sack voller Geschichten aber wieder auf. Und auch wenn sich all das Zeug
       über Polizeischikanen, Kakerlaken-Armeen und riskante Drogendeals kaum
       überprüfen ließ, spürte man doch, dass hier eine Form von Rock ‚n‘ Roll
       lebte, die ich mir als Kleinstadtbürgerkind nur in weit geringeren
       Dosierungen zugestand.
       
       Vierzig Jahre später. „Komm mit zur Weinernte“, sagt Freund Boris, als ich
       – wenig originell – über Ukraine, Inflation und den baldigen Herbst
       lamentiere. „Die Arbeit ist anstrengend, aber das Essen super. Und der Wein
       natürlich sowieso.“ Doch Boris ist nicht nur zwanzig Jahre jünger als ich,
       sondern auch ziemlich athletisch. Klimmzüge, Bauchmuskeltraining,
       Liegestützen – das ganze Körperpaket, gegen das mein eigenes Programm aus
       Wochenend-Jogging und Faultier-Pilates ziemlich dürftig anmutet. „Du
       schaffst das“, sagt Boris.
       
       Am übernächsten Dienstag im frühmorgendlichen Weinberg nahe des Dorfes
       Pernand-Vergelesses scheint sich das zunächst zu bestätigen. Ohne
       Arbeitseinweisung, aber ausgestattet mit Plastikeimer und handelsüblicher
       Gartenschere, geht das Traubenschneiden leicht von der Hand. Im Stehen
       greife ich beherzt von beiden Seiten in die Rebenstockhecke – ein völlig
       unnötiger Anfängereifer, der schon zehn Minuten später mit einem kräftig
       blutenden Finger bestraft wird. Das möchte man jetzt nicht herzeigen. So
       dumm möchte man am allerersten Tag wirklich nicht dastehen. Rasch stülpe
       ich über die Hand einen grauen Arbeitshandschuh, der das Malheur
       einigermaßen verbirgt, und mache weiter.
       
       Stunden später nach der Mittagspause ist die Wunde zwar gestillt –
       Traubensaft sei ein super Desinfektionsmittel, heißt es – doch inzwischen
       hat sich mein Rücken gemeldet. Sich stehend zu den Trauben herabzubeugen
       quält die Bandscheiben, die energisch nach einer anderen Position
       verlangen. Ich wechsle in die Hocke, doch das ist eine Haltung, die in
       meinem Alter vielleicht noch Chinesen durchstehen, meine Knie aber nicht.
       Also wieder Wechsel: ein Bein rechtwinklig, das andere Knie auf den Boden
       gestützt. Was auch nicht gut funktioniert, weil sich ständig kleine Steine
       in das aufstützende Knie bohren. Völlig erledigt arbeite ich schließlich
       auf dem Hosenboden, was weniger schmerzt, unter Weinerntenden aber als
       unwürdig gilt. Die Kapitulationshaltung der totalen Anfänger, wie man mich
       wissen lässt.
       
       „Alles normal“, sagt Camille aus Marseille, die ich beim Abendessen kennen
       lerne. „Der erste Tag ist furchtbar, der zweite auch, der dritte nicht mehr
       ganz so. Am vierten geht es.“ Die Studentin und ihre Schwester sind schon
       zum dritten Mal hier, nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Atmosphäre,
       wie sie sagen. Im Winter geht es für ein Jahr nach Kolumbien, erzählt sie
       munter, während ich brüte, wie das hier für mich weitergehen soll. So wie
       die Dinge liegen, überstehe ich den nächsten Tag allenfalls mit den starken
       Schmerztabletten, die sich klugerweise in meinem Gepäck befinden.
       
       Die Pillen verkneife ich mir. Am nächsten Morgen auf dem Feld wünscht man
       sich ohnehin eher Speed. Das schöne Wetter des Vortages hat sich in einen
       Regenhimmel verwandelt, der kurz nach Arbeitsbeginn seine Schleusen öffnet.
       „Wenn es zu stark regnet, brechen sie den Einsatz auch schon mal ab“, sagt
       ein Arbeiter. Doch von wegen. Während der Regen zunimmt, werden olivgrüne
       Jacken verteilt, die zwar vor Feuchtigkeit, nicht aber vor der
       aufweichenden Erde schützen, die sich rasch in Form kiloschwerer Klumpen an
       den Schuhen festsetzt.
       
       Die Steinchen, die sich in mein aufstützendes Knie bohren, bleiben so hart
       wie am Vortag. Während ich in der endlosen Reihe mit halbleerem Eimer dem
       nächsten Rebstock entgegen robbe, denke ich an Camus und seinen Satz über
       die menschliche Selbstbehauptung im Angesicht des Absurden: Wir müssen uns
       Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Den Stein den Berg hinauf
       rollen, auch wenn es sinnlos ist. Glück empfinden, allein weil man nicht
       aufgibt.
       
       ## Korrekte Konditionen
       
       Was mich an diesem elenden Tag rettet, ist jedoch nicht die Philosophie,
       sondern ein gepolsterter Knieschoner, den eine Frau aus der Nachbarreihe
       unverhofft an mich weiterreicht. Sie habe zwei davon, sagt Anita, die aus
       der Nähe von Turin stammt und auch seit Jahren nach Frankreich reist.
       Daheim seien gute Weinerntejobs nicht zu finden, die Arbeit werde innerhalb
       der Familien verteilt oder über die Mafia an unterbezahlte Mazedonier
       vergeben. Weil die Mafia in Italien heute überall sei, könne man dort nur
       noch abseits des Systems leben. Im Piemont betreibe sie ökologischen
       Landbau und eine kleine Privatschule, berichtet sie. Heute Abend werde sie
       mir Fotos zeigen. Vergiss Camus, denke ich, während ich meinen neuen
       Kniekomfort genieße. Die Welt braucht keinen weiteren Sisyphos, sondern
       Leute wie sie.
       
       Dass solche Menschen auf Frankreichs Weinfeldern arbeiten, muss Gründe
       haben. Mein Arbeitgeber, die Winzerfamilie Rapet, ist vermutlich einer
       davon. Angesichts der Ausbeutung, die Feldarbeitende in vielen Teilen
       Europas erleiden, wirken die Konditionen, zu denen bei Rapet gearbeitet
       wird, ziemlich korrekt. Stundenlöhne von neun Euro für die Schneidenden und
       elf Euro für die Träger mögen armselig klingen, sind aber nicht nur für
       Menschen aus Osteuropa ein Motiv, sich auf den Weg zu machen.
       
       Es gibt feste Acht-Stunden-Tage, die penibel eingehalten werden. Freie
       Unterkunft im Mehrbettzimmer und vier freie Mahlzeiten mit großem
       Feldfrühstück und üppigem Mittag- und Abendessen. Frisches Fassbier zum
       Feierabend, jede Menge guten Wein, leckeren Crémant und Cassis. Es gibt
       Steuernummern und korrekte Endabrechnungen, Weinpräsente und Rabatte zum
       Abschied. Und vor allem: es dominiert ein freundlicher und entspannter
       Umgangston.
       
       Von den achtzig Leuten, die in diesem Jahr für Rapet ernten, sind die
       meisten Wiederholungstäter, einige kommen seit Jahrzehnten. Vier taubstumme
       Männer aus Toulouse, deren Anführer fehlende Worte durch spontane
       Umarmungen wettmacht. Ein Restaurantkoch aus den Pyrenäen, der sich daheim
       für gute Krankenhauskost engagiert, eine Studentin aus Wallonien, die sich
       hier besser behandelt fühlt als an ihrer Uni von den Flamen. Ein Sinti aus
       dem Nachbardorf mit Jean-Gabin-Gesicht und beeindruckenden Oberarmen.
       
       ## Rettende Vorfreude
       
       Eine Konzeptkünstlern aus Barcelona, die sich schwertut zu erklären, was
       ihre Konzeptkunst ausmacht. Ein Trupp Italiener, deren Appetit so robust
       wirkt wie ihre gute Laune. Nach dem Abendessen sitzen sie alle fröhlich auf
       den Stufen unterhalb des Speisesaals und massieren einträchtig die Nacken-
       und Schulterpartien ihrer Vorderleute. Doch ungeachtet solcher Idyllen –
       mein Körper findet das auch am Ende des zweiten Tages alles nicht so toll.
       Der Schmerz in Knie und Rücken hat sich mittlerweile über alle Glieder
       verteilt, so als seien Arme, Hände, Oberschenkel, Waden und Füße kollegial
       übereingekommen, auch ihren Teil übernehmen zu wollen.
       
       Der dauergrinsende Mihai, der am nächsten Tag in der Reihe neben mir
       arbeitet und die Umgebung mit rumänischem Hip Hop beschallt, scheint gegen
       solche Anfechtungen immun. Die fünf Joints, die er als Tagesration bereits
       vor dem Frühstück gebastelt hat, machen eben doch einen Unterschied. Auch
       Jean Gabin, der heute mit Frau, Sohn und Tochter pflückt, ist kaum je ohne
       Joint in der Hand zu sehen. Schlimm ist nicht, dass das für mich keine
       Option ist, weil mich die Droge sofort aus dem Feld schlagen würde, sondern
       dass die Kiffenden alle deutlich schneller arbeiten als ich. „Versuch mal
       aufzuschließen“, sagt Boris, als ich in meiner Reihe schon wieder zehn
       Meter hinter den anderen zurückliege. Doch der Versuch, das Tempo zu
       forcieren, führt lediglich dazu, dass ich im dichten Blättergestrüpp viel
       zu viele Trauben übersehe. Wenig später beugt sich die Vorarbeiterin herab:
       „Du solltest hier wirklich besser eine Brille tragen.“
       
       Man erträgt das leichter, wenn man den Tag in kleinere Abschnitte zerteilt
       und Vorfreudephantasien auf die kommenden Mahlzeiten herbeidenkt. Kleine
       illegale Pausen in unbeobachteten Momenten dankt der Körper ebenfalls. Weil
       die Arbeit anstrengend, aber anspruchslos ist, bleibt zudem Raum für innere
       Monologe und Gedankenspiele. Während die Sonne brennt und die Minuten so
       müde vordankriechen wie ich, denke ich an dicke Kirchenmänner, die in
       Talkshows launig verkünden, sie seien eigentlich nur „einfache Arbeiter im
       Weinberg des Herren“.
       
       Was das wohl heißen soll? Doch nichts anderes als: Je härter die Arbeit,
       desto größer die Verklärung durch jene, die sie nicht leisten müssen. Mir
       geraten Bilder von Plantagen in den Sinn, Baumwollfelder, Tabakanbau,
       Zuckerrohrpflanzen, Orangenbäume, Erdbeerbeete, Spargelfelder,
       Reisterrassen im Wasser, grüne Hügel voller Tee. Die Elenden, die das alles
       hervorbringen. Zwangsarbeit. Leibeigene. Chinas Kulturrevolution.
       Umerziehung. Gulag. Vernichtung durch Arbeit. Wie gut ich es habe.
       
       ## Kein Kosumterror, keine Influencer
       
       Am Abend auf den Treppenstufen vorm Speisesaal sind alle Schmerzen und
       Schrecken wieder vergessen. Jemand hat eine Gitarre hervorgeholt, die
       Italiener geben den Ton an, zwanzig Kehlen schmettern Bella Ciao und It's
       wonderful von Paolo Conte. Dann geht’s weiter zum Dorffest, wo neben den
       Ernteleuten der anderen Betriebe auch viele Dörfler mitfeiern. Als wir
       eintreffen, ist schon die Hölle los. Zwei Capoeira-Tänzer, die sich hier
       erst kennengelernt haben, ziehen die Blicke auf sich und präsentieren ein
       kongeniales Duell. Durch die Luft schwirrt Französisch, Englisch,
       Italienisch, Spanisch, Rumänisch.
       
       Erzkiffer Mihai hat einen Landsmann aus Bukarest getroffen. Der berichtet,
       dass er und seine Freundin zunächst auf einem Weingut in der Provence
       gearbeitet hätten, von dort aber flüchten mussten, weil vier Männer in den
       Schlafsaal der Frauen einbrechen wollten. Gemeinsam mit der Polizei hätte
       er das Schlimmste verhindert. Beim neuen Winzer sei nun alles bestens.
       Seine Freundin tritt hinzu, zerrt ihren Retter energisch hinaus und auf die
       Tanzfläche. Die Beiden wirbeln umeinander, knutschen gierig, blicken sich
       in die Augen. Vermutlich ist es der Sommer ihres Lebens.
       
       Dass das freie Europa in Dekadenz und Niedergang begriffen sei, wie die
       Nationalisten des Kontinents uns weismachen wollen, ist eine schmutzige
       Lüge, die in Pernand-Vergelesses ihre Widerlegung findet. Denn Weinernte,
       das begreife ich jetzt, heißt Freiheit. Keine Putin-Jugend, die auf den
       Präsidenten schwört. Keine Parteihemden mit ehrgeizigen Erntezielen. Keine
       Gläubigen, die sich die Welt schönbeten oder wegmeditieren.
       
       Kein Teambuilding für die Angestellten. Keine Gehirnwäsche für den Konsum.
       Keine cancel culture, keine Influencer, keine Follower, keine Hater.
       Stattdessen: Malocher, Studentinnen, Künstlerinnen, Handwerker, Kiffer,
       Taubstumme, Öko-Bäuerinnen, Sinti, Köche, Verliebte, Träumer,
       Durchreisende, Väter, Töchter. Alle zusammen sehr verschieden, aus vielen
       Ecken Europas, jeden Alters, jeder Herkunft. Ziemlich frei, ziemlich
       selbstbestimmt. Und ziemlich gut gelaunt.
       
       Als ich nach sieben Erntetagen meinen Lohn abhole, sind die Schmerzen
       tatsächlich fast verschwunden. Es stimmt schon: Ab dem vierten Tag wird
       alles besser, der Körper passt sich irgendwie an. Durchgehalten zu haben
       fühlt sich ganz und gar großartig an. Das Geld in meiner Hand – nicht
       wirklich viel, aber noch niemals so hart erarbeitet – verdient einer meiner
       Bekannten an einem Vormittag beim Kundentermin. Während ich an der
       Dorfkirche stehe und auf meinen Lift zum Bahnhof warte, treffe ich auf
       Ludwig, den Anführer der Taubstummen. Als er sieht, dass ich abreise,
       breitet er seine Arme aus und drückt mich an sich. Ich fürchte, dass er
       mich zerquetschen wird.
       
       22 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Jahrfeld
       
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