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       # taz.de -- Neuer Heimatunterricht in Russland: Gehirnwäsche ab der ersten Klasse
       
       > Zum neuen Schuljahr nehmen die Propagandisten im Kreml die Jüngsten ins
       > Visier: mit einem neuen, patriotischen Schulfach. Kritik ist unerwünscht.
       
   IMG Bild: „Spannend, die russische Fahne wird gehisst!“, Russische Grundschulkinder am 1. September 2022
       
       Moskau taz | Die russische Trikolore im Hof der Schule Nummer 56 im
       Moskauer Westen, sie flattert noch am Nachmittag im kühlen Herbstwind. Am
       Morgen hatte sie ein Elftklässler hier hochgezogen, begleitet von der
       russischen Hymne. Es ist Schulanfang in Russland. Die Mädchen haben weiße
       Schleifen im Haar, die Jungen tragen Anzug samt Fliege, und alle
       überreichen sie ihren Lehrer*innen Blumen.
       
       Flaggenhissen und Hymnehören ist seit diesem 1. September wieder Pflicht an
       jeder staatlichen Schule im Land, wie es in der Sowjetunion war. Russlands
       Präsident Wladimir Putin hatte sich dafür ausgesprochen, jede Schulwoche
       damit beginnen zu lassen. Den Kindern müsse schließlich die [1][Liebe zum
       Vaterland vermittelt] werden.
       
       Das tut das Land nun mittels Geschichtsunterricht ab der ersten Klasse und
       Gesprächen über die „Richtigkeit“ der „militärischen Spezialoperation“, wie
       Russland den Krieg in der Ukraine offiziell nennt.
       
       „Ideologische Erziehungsarbeit“ wird, wie bereits zu Sowjetzeiten, wieder
       Teil der schulischen Bildung. Laut Umfragen sind es vor allem junge
       Menschen, die das Handeln ihrer Regierung infrage stellen, die auch den
       Krieg in ihrem Nachbarland verurteilen. Der Kreml will offenbar so früh wie
       möglich gegen solche Umtriebe ansetzen. Das Aufklärungsministerium, wie das
       russische Bildungsministerium heißt, stellt allen Schuldirektor*innen
       dafür Erziehungsberater*innen zur Seite.
       
       ## Emotionen sind wichtig, Kritik nicht erwünscht
       
       Die wenigsten Eltern im Land stören sich an Flagge und Hymne. Viele nehmen
       die Neuerung als nostalgische Erinnerung an ihre eigene Schulzeit wahr,
       erzählen, wie sie einst bei der sogenannten „Lineika“, wie der feierliche
       Appell vor dem Beginn des Unterrichts bis heute heißt, selbst nach vorn
       getreten seien, um voller Aufregung an der Kurbel der Fahnenstange zu
       drehen. Nun zögen eben ihre eigenen Kinder die Flagge hoch, sagen sie, was
       sei schon dabei?
       
       Bei der Fahne allein aber bleibt es nicht. Ab kommendem Montag beginnen die
       sogenannten „Gespräche über Wichtiges“. Eine Art Klassenstunde, damit die
       Kinder begriffen, was „Heimat“ sei. Das erste „Gespräch“ führte gleich am
       Einschulungstag der Präsident höchstpersönlich.
       
       [2][In Kaliningrad], der russischen Enklave an der Ostsee, legte Putin vor
       Sieger*innen schulischer Wettbewerbe seine Sicht auf die Geschichte dar:
       von einem stets von außen bedrohten Russland, das sich immer zu wehren
       wisse. Kritische Anmerkungen waren nicht gestattet, wie Kritik an der
       offiziellen Geschichtsschreibung ohnehin nicht erlaubt ist im Land.
       
       In Handbüchern des Ministeriums finden Lehrer*innen seit wenigen Tagen
       vorbereitete Anleitungen – mit Fragen für sie und möglichen Antworten ihrer
       Schüler*innen. Jede Woche ist einem anderen Thema gewidmet: „Russland ist
       unser Land“, „Traditionelle Familienwerte“, „Einheit des Volkes“. Jede
       Klasse soll über Heimat diskutieren, „Emotionen sind dabei wichtig“, steht
       im Handbuch. Die „Diskussion“ aber dürfte, sieht man sich die sehr genauen
       Vorgaben des Ministeriums an, einseitig ablaufen.
       
       ## Ein Handbuch für Lehrer*innen
       
       Für Erst- und Zweitklässler*innen steht im Rahmen der „Russland ist
       unsere Heimat“-Stunde das Lernen des sowjetischen Liedes „Womit fängt die
       Heimat an?“ im Vordergrund. „Die Kinder sollen mit dem Stolz auf ihr
       Vaterland“ aus der Stunde herauskommen, heißt es in der Anweisung an die
       Pädagog*innen.
       
       Dritt- und Viertklässler*innen sollen Sprichwörter zur Heimat sammeln.
       Als Beispiele werden solche Sätze wie „Das Glück der Heimat ist teurer als
       das eigene Leben“ oder „Für die Mutterheimat zu sterben macht keine Angst“
       genannt. Am Ende der Stunde gilt es, einen Aufsatz zum Thema „Wie dient ihr
       der Heimat?“ zu schreiben. „Ein Tipp:,dienen' bedeutet, seine militärische
       Pflicht zu erfüllen oder sich im Namen eines anderen einer Sache zu
       unterwerfen“, steht im Handbuch.
       
       Ab Klasse fünf sollen die Schüler*innen die „Ziele der Spezialoperation
       begreifen“, sollen wissen, dass „DNR und LNR“, die selbsternannten
       [3][Volksrepubliken im Donbass], „Russland“ und „Russische Soldaten Helden“
       seien. Videos, Spiele und Lieder stellt das Ministerium, damit der
       Unterricht interaktiver wird. 22 Millionen Rubel (umgerechnet etwa 360.000
       Euro) gibt der Staat für das Programm aus.
       
       ## Keine Orte des Dialogs
       
       Die russische Psychologin Ljudmila Petranowskaja sieht in den „Gesprächen“
       einen „Versuch, die Gesellschaft in die vom Kreml gewollte Richtung zu
       beeinflussen. Russische Staatsschulen sind keine Orte des Dialogs“.
       
       In Whatsapp-Gruppen und Telegram-Chats tauschen sich derweil manche Eltern
       über Strategien aus, wie ihre Kinder den patriotischen Unterricht umgehen
       könnten. „Ist Schwänzen o.k.?“, fragt eine Mutter.
       
       Eine Moskauer Lehrerin, die Julia genannt werden will, erzählt davon, wie
       sie der „aufgezwungenen Gehirnwäsche“, wie sie die Klassenstunden nennt,
       entkommen will. „Ich könnte mit den Schülern Tee trinken und über das
       sprechen, was sie gerade bewegt. Aber irgendwann will die Direktorin einen
       Bericht sehen. Ich bringe es nicht übers Herz, meinen Schülern davon zu
       erzählen, dass russische Soldaten Helden sind.“
       
       Ihre Option: kündigen. „Aber so viele Privatschulen gibt es gar nicht in
       unserem Land, um uns nicht einverstandene Lehrer alle aufnehmen zu können.“
       
       2 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Der-Krieg-und-Russlands-Gesellschaft/!5873511
   DIR [2] /Kaliningrads-Sehnsucht-nach-Europa/!5595197
   DIR [3] https://www.dw.com/de/donezk-und-luhansk-chronik-einer-schleichenden-besatzung/a-60873136
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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