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       # taz.de -- München 1972: Als die Spiele weitergehen mussten
       
       > Vor 50 Jahren ermordeten Terroristen elf israelische Sportler. IOC-Chef
       > Avery Brundage antwortete: „The games must go on“. Zur Karriere eines
       > Satzes.
       
   IMG Bild: Abschlussfeier 1972 mit Avery Brundage, auf der Anzeigentafel sein falsch geschriebener Nachname
       
       Mit dem Satz „The games must go on“ hat der IOC-Präsident Avery Brundage
       vor 50 Jahren Sportgeschichte geschrieben. Gesprochen hat ihn der damals
       84-jährige US-Amerikaner am Vormittag des Mittwochs, 6. September 1972,
       beim Gedenken an die elf bei den [1][Olympischen Spielen in München]
       ermordeten israelischen Sportler. 80.000 Menschen waren zur Trauerfeier ins
       Olympiastadion gekommen. Nicht anwesend waren die Mannschaften aus
       arabischen Ländern, der Sowjetunion, der DDR, Ungarn und Rumänien.
       
       Brundages Satz wird bis heute oft zitiert. Vielen gilt er als moralisches
       Motto, das zeige, dass man sich vor Terror und anderen Bedrohungen nicht
       beugen dürfe. Beinah ein kategorischer Imperativ. Doch mit dem historisch
       gesprochenen Satz hat dies nichts zu tun. Brundage wollte nur sein
       Spektakel retten.
       
       Keine 30 Stunden vor der Trauerfeier hatte [2][die Katastrophe] begonnen.
       Acht palästinensische Terroristen waren in das Olympische Dorf
       eingedrungen, sie töteten bald zwei Israelis: den Gewichthebertrainer Moshe
       Weinberg und den Ringer Yossef Romano. Weinberg legten sie vor die Tür des
       Hauses, damit das Rote Kreuz ihn abhole. Romano ließen sie in der Wohnung
       verbluten – als Warnung an die neun noch lebenden Geiseln. Die starben
       später bei einer von den Behörden dilettantisch organisierten
       Befreiungsaktion auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck.
       
       Erstmals hatte Brundage den Satz nicht bei der Trauerfeier ausgesprochen,
       sondern schon am Dienstag, den 5. September. Nachmittags, als Yossef Romano
       noch tot im Apartment lag, konferierten die Organisatoren der Spiele. Um
       15.30 Uhr wurde Brundage wütend: „The games must go on.“ Unterbrechung ja,
       aber kein Abbruch, und die noch laufenden Finals müssten zu Ende geführt
       werden. Nach 24 Stunden sollten die Wettkämpfe fortgesetzt werden –
       unabhängig vom Ausgang der da noch laufenden Geiselnahme.
       
       Die hatte um 4.20 Uhr begonnen, spätestens um 7 Uhr wusste die
       Weltöffentlichkeit, was im Olympischen Dorf geschah, doch das
       Organisationskomitee hatte Dienstag um 9 Uhr die Wettkämpfe wie geplant
       beginnen lassen. Nicht weit weg vom Haus der Israelis in der Connollystraße
       31 fand etwa in einer vollbesetzten Halle das Männer-Volleyballspiel der
       Bundesrepublik gegen Japan statt. Woanders waren Gewichtheben, Boxen,
       Handball, Basketball, Fußball, Ringen und Dressurreiten im Gange, und im
       Olympischen Dorf herrschte – abgesehen von der gesperrten Connollystraße –
       munteres Treiben. Fernsehkameras zeigten, wie in Sichtweite zum Tatort
       Pärchen auf der Wiese flirteten oder wie Tischtennis gespielt wurde.
       
       ## Demonstrationen für sofortiges Ende
       
       Es gab aber nicht nur Ignoranz. Als Brundage im kleinen Kreis seinen
       prägnanten Satz erstmals formulierte, demonstrierten in der Innenstadt
       schockierte und empörte Münchner für einen sofortigen Abbruch der Spiele.
       Die Israelitische Kultusgemeinde Münchens richtete einen Gedenkgottesdienst
       für Moshe Weinberg und Yossef Romano aus. Eine repräsentative Blitzumfrage
       zeigte, dass 40 Prozent der Bundesbürger für Abbruch, 40 Prozent für
       Weitermachen votierten.
       
       Solche Diskussionen gab es auch im Olympischen Dorf. Der US-Schwimmer Mark
       Spitz, mit sieben Goldmedaillen der Star der Spiele, wollte ursprünglich
       erst am Mittwoch München verlassen. Als er, ein Jude aus Kalifornien,
       erfuhr, was passiert war, reiste er sofort ab, begleitet von
       Personenschützern. Uli Hoeneß, 20-jähriger Fußballer im Olympiateam, wollte
       nicht mehr im Olympischen Dorf leben. „Man kann doch nicht zuerst um
       ermordete Menschen weinen und dann wieder in Jubel ausbrechen“, sagte er.
       Seine Freundin holte ihn ab, fortan blieb er in ihrer Münchner Wohnung. Der
       Sprinter Manfred Ommer, Favorit im 100-Meter-Lauf, verließ Olympia. In der
       deutschen Leichtathletik-Mannschaft fand er kaum Verständnis, das Wort
       „Kameradenschwein“ soll gefallen sein, denn er lasse die
       4x100-Meter-Staffel im Stich. In der niederländischen Delegation hingegen
       war der Wille zur Abreise verbreitet. Das IOC einigte sich auf einen
       Kompromiss: Das Team Niederlande blieb, nahm aber nicht mehr an Zeremonien
       teil.
       
       Sogar die Mannschaft der DDR soll von SED-Generalsekretär Erich Honecker
       aufgefordert worden sein, abzureisen. So zumindest berichtet es der
       langjährige DDR-Sportchef Manfred Ewald. Man habe sich darauf geeinigt, die
       Mannschaft dann von zwei Offizieren der Staatssicherheit schützen zu
       lassen. Auch etliche der ehrenamtlichen Olympiahostessen entschlossen sich,
       die Spiele zu verlassen.
       
       Vollständig abgereist war die Mannschaft, deren Land der Terroranschlag
       galt. „In tiefer Erschütterung verlässt die israelische Delegation diesen
       Ort“, sagte Israels Chef de Mission, Shmuel Lalkin, auf der Trauerfeier.
       Zugleich kündigte er an, dass Israel an späteren Olympischen Spielen wieder
       teilnehmen werde, wofür er kräftigen Applaus der 80.000 bekam.
       
       ## Angeblich wollten die Israelis ein „Weiter so“
       
       Auch Avery Brundage bekam für sein „The games must go on“ lauten, man kann
       sagen: trotzigen Beifall. Die New York Times fühlte sich bei der Art, wie
       Brundage das Gedenken beging, an eine „Motivationsveranstaltung“ erinnert.
       
       Dass Shmuel Lalkin persönlich gegen den Abbruch war, kam den Kräften im IOC
       und dem Organisationskomitee, die weitermachen wollten, entgegen. „Die
       Israelis baten mich dann auch trotz ihrer Opfer“, berichtete Walther Tröger
       später, „dass ich alles dafür tun solle, dass die Spiele weitergehen.“
       Tröger war Bürgermeister des Olympischen Dorfes, später einer der
       Spitzenfunktionäre des deutschen Sports.
       
       Dass „die Israelis“ für die Fortsetzung der Spiele votierten, wird
       mittlerweile oft kolportiert und, so wie Tröger es tat, als Argument für
       „The games must go on“ genommen. Aber es ist falsch. Israels
       Premierministerin Golda Meir hatte am Mittag des 5. September via deutschen
       Botschafter Bonn mitteilen lassen, „dass die israelische Regierung
       außerordentlich verwundert darüber sei, dass die Spiele fortgesetzt werden,
       während die israelischen Geiseln festgehalten werden“. Wenige Stunden
       später verlangte Meir in einer Rede vor dem israelischen Parlament auch
       öffentlich den Abbruch der Spiele. Israelische Medien berichteten am Tag
       nach der Trauerfeier von politischem Druck Israels auf das IOC und die
       Bundesrepublik – vergebliche Versuche.
       
       Besonders bitter war es für die Angehörigen. [3][Ankie Spitzer], Witwe des
       in Fürstenfeldbruck getöteten israelischen Fechttrainers André Spitzer,
       schrieb später über die Trauerfeier: „Dieser Typ steht da oben und
       verkündet: Die Spiele müssen weitergehen! Da dachte ich nur, ich muss was
       tun, ich muss aufspringen und protestieren.“
       
       Auch in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland überwog Unverständnis.
       Die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung hatte schon vor den Spielen daran
       erinnert, dass es noch viele jüdische Journalisten gab, die sich
       außerstande sahen, „ihren Fuß auf deutschen Boden zu setzen“. Die
       KZ-Gedenkstätte Dachau nahe München hatte aus Anlass der Olympischen Spiele
       eine Sonderausstellung über Widerstand gegen das NS-Regime gezeigt. Das
       Organisationskomitee jedoch wollte sie nicht in das offizielle
       Kulturprogramm aufnehmen. Die israelischen Olympiasportler hatten kurz vor
       den Spielen Dachau besucht. Wenige Tage später waren elf von ihnen tot.
       
       Heinz Galinski, Auschwitz-Überlebender und Vorsitzender der Jüdischen
       Gemeinde zu Berlin, bedauerte die IOC-Entscheidung, die zustande gekommen
       sei, „weil manchen der teilnehmenden Länder Olympiaden in erster Linie als
       Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung dienen, gegenüber dem moralische
       Erwägungen wenig zählen“.
       
       ## Avery Brundage, ein Rassist und Antisemit
       
       Dem IOC und seinem Präsidenten Avery Brundage erschien der Terroranschlag
       nur als etwas Sportfremdes, das den reibungslosen Ablauf störte. Die
       Spiele, führte Brundage aus, seien „kommerziellem, politischem und
       neuerdings kriminellem Druck“ ausgesetzt. „The Games must go on, und wir
       müssen unsere Bemühungen fortsetzen, sie sauber, rein und ehrlich zu
       halten.“ Brundage brachte es zudem fertig, die vor den Spielen erfolgreiche
       [4][Boykottdrohung afrikanischer Länder] für einen Ausschluss des
       Apartheidstaates Rhodesien mit dem Terroranschlag gleichzusetzen: „Die
       Spiele der XX. Olympiade waren das Ziel zweier grausamer Angriffe. Wir
       haben den Rhodesien-Kampf gegen nackte politische Erpressung verloren.“
       
       Avery Brundage war seit 1936 Mitglied des IOC. Der Bauunternehmer aus
       Chicago wurde das, weil er das amerikanische IOC-Mitglied Ernest Lee
       Jahncke verdrängte. Jahncke hatte für einen Boykott der Nazispiele 1936
       votiert, Brundage hingegen kämpfte für eine Teilnahme der US-Sportler. Als
       Brundage, selbst Mitglied der rechtsextremen Bewegung „America First“,
       erfuhr, dass in Deutschland Juden nicht mehr in Sportvereinen geduldet
       waren, antwortete er: „In meinem Club in Chicago haben Juden ebenfalls
       keinen Zugang.“
       
       Ein bekennender Antisemit und Rassist, Spitzname „Slavery Avery“, war es
       also, der vor 50 Jahren verkündete, dass olympischer Sport wichtiger sei
       als das würdige Gedenken an ermordete jüdische Athleten. Der mit bis heute
       anhaltender Wirkung sagte, dass die Spiele, ganz gleich was passiert, immer
       weitergehen müssten.
       
       Bei der Abschlussfeier der Olympischen Spiele erwähnte der IOC-Präsident
       die ermordeten Sportler nicht mehr. Auf der Anzeigetafel bedankten sich die
       deutschen Organisatoren bei Avery Brundage.
       
       3 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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