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       # taz.de -- Die Wahrheit: Grobian, geh du voran!
       
       > Hass, Hetze, Hektik allerorten: Kommt es zu einer Renaissance des
       > Rüpelismus? Nach den großen Vorbildern aus dem Zeitalter der Derbheit?
       
   IMG Bild: Der Spezialist für Grobianismus Tannhäuser als Beifahrer, hier in Wagners Bayreuth 2022
       
       Es gab eine Zeit, in der Rohlinge und Flegel das Sagen hatten und jeder bei
       Tisch tat, was er wollte. Das war die Zeit, als die Gabel noch nicht
       erfunden war und ein jeglicher mit dem Messer und bloßer Hand essen musste.
       Das war die sogenannte frühe Fingerfutterzeit.
       
       Bei Hofe aßen gewöhnlich eine „Dame“ und ein „Herr“, man kann sich
       vorstellen, wie es dabei zuging, erwähnt seien nur die Worte „Mundraub“ und
       „Futterneid“. Das einfache Volk „aß“ gemeinsam aus einer großen Schüssel
       und scherte sich nicht um Etikette.
       
       Wen wundert’s da, dass der Schutzpatron der grunzenden Schlemmer passend
       Sankt Grobian genannt wurde. So steht es jedenfalls im Logbuch des
       „Narrenschiffs“, aufgezeichnet von Logbuchführer Sebastian Brant im Jahr
       1494. Meister Brant fiel auch als Erstem auf, dass alle richtigen
       Schutzheiligen auf „ian“ enden: Florian, Kilian, Sebastian oder eben
       Grobian. Ein „Grober Jahn“ halt, wie Luther kurze Zeit später kalauerte.
       
       Die grobe Lutherzeit war auch eine Zeit der Tischzuchten. Eine „Tischzucht“
       war der Knigge des Mittelalters und sagte den Völlernden, wie man und frau
       sich bei Tisch zu benehmen hatte. Je deftiger das geschildert wurde, desto
       besser, denn so ein Tischzuchten-Lehrer wollte von seinen Zuchten ja gut
       leben. Deftiges wurde im Mittelalter selbstverständlich gern gelesen,
       gehört und gegessen.
       
       ## Zucht und Manieren
       
       Der erste bekannte Tischzuchten-Verfasser war ein gewisser Tannhäuser, ein
       umtriebiger Wandermönch und Minnesänger. Uns wurde er bekannt als
       Sängerkrieger in Wagners gleichnamiger Oper und seinen Zeitgenossen als
       Schriftsteller, der als Erstes ein deftiges Manierenbuch auf den
       Essküchentisch brachte.
       
       „Aus der Schüssel trinken, ziemt niemandem“, schimpfte Tannhäuser und fuhr
       fort: „Wenn er wie ein Schwein isst und dann noch unappetitlich schnappt
       und schmatzt mit dem Mund, das sollt ihr als Unsitte ansehen.“ Auch
       abgenagte Knochen zurück in die Schüssel geben und Senf aus dem Senftopf
       herausfingern geißelte er als unzüchtig. Und „wer ins Tischtuch schnäuzt
       und dabei schnauft wie ein Wasserdachs und schmatzt wie ein Baiersachse,
       ist ein ungehobelter Flegel“. Meinte jedenfalls der gehobelte Tannhäuser.
       
       „Und wer den Schmutz aus seiner Nase nimmt und von den Augen, wie es manche
       tun, und auch in die Ohren greift“ und dabei „La Paloma“ pfeift, ist ein
       grober Tunichtgut. Und ein dummer obendrein: „Wer übermäßig viel essen
       will, wird das Sodbrennen nie los.“ Und wenn’s juckt zu Tisch? „Ihr sollt
       am Hals euch auch nicht kratzen, wenn ihr esst mit bloßer Hand, wenn es
       sich nicht vermeiden lässt, so nehmt vornehm das Gewand und juckt damit.“
       So geht’s doch auch.
       
       ## Schutz gegen das Vulgäre
       
       Hol’s der Teufel, unter dem derben Schutzpatron St. Grobianus sollte die
       Vulgärliteratur mit ihren Tischzuchten den ersten strahlenden Höhepunkt
       erleben, Grobiane sprechen jedenfalls ehrfurchtsvoll vom „Zeitalter des
       Grobianismus“. Hans Sachs, Friedrich Dedekind, Sebastian Brant und die
       Rossauer Tischzucht, das war noch didaktische Dichtung vom Gröbsten!
       
       Egal wie viel Hass und Häme heutige Häretiker im Netz über andere
       ausschütten, das Hochmittelalter bleibt das Maß aller Dinge und unerreicht,
       was Derbes und Grobes anbelangt, verdammte Hacke! Da können die neuen
       Pöbler pöbeln, was sie wollen, sie bleiben die blassen Erben der guten
       alten Rüpel!
       
       Und kann es in der heutigen Literatur zu der viel beschworenen Renaissance
       des Grobianismus kommen? Wohl kaum. Heißt es auch, „Roh zu sein, bedarf es
       wenig“, so sagt man doch: „Im Flachen ist der Aufstieg schwer.“ Hilf uns,
       heiliger Grobian, die Welt ist am Verblöden!
       
       20 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Groß
       
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