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       # taz.de -- Kitaplätze und Bildungsföderalismus: Deutschland versteinert
       
       > Kitaplätze fehlen, die Sprachförderung wurde gestrichen: Warum es
       > hierzulande einen neuen Bildungsföderalismus braucht.
       
   IMG Bild: In den Kitas fehlen bis zu über 340.000 Plätze
       
       Bund, Länder und Gemeinden benötigen Hunderttausende Lehrer und
       Erzieher:innen. [1][In den Kitas fehlen über 340.000 Plätze]. Bis zu 40
       Prozent der Kinder werden in einzelnen Bundesländern nicht betreut, obwohl
       ihre Eltern dies wünschen. Ein politisches Armutszeugnis mit weitreichenden
       ökonomischen und sozialen Folgen.
       
       Das Institut der deutschen Wirtschaft bescheinigte dem deutschen
       Bildungssystem jüngst einen Rückfall: Der Lernerfolg der Schüler:innen
       liege heute im Durchschnitt aller Bundesländer auf dem Niveau, den 2011 das
       damals schlechteste Bundesland Bremen erreicht hat. Fast gleichzeitig warnt
       der Bundesrechnungshof vor der finanziellen Handlungsunfähigkeit des
       Staates. 90 Prozent des Bundeshaushalts seien bereits „versteinert“, das
       heißt ausgegeben: Pensionspflichten des Staates gegenüber Beamten,
       Steuerzuschüsse an die gesetzliche Rentenversicherung und weitere
       Sozialausgaben. Bis 2040 würden allein die Ausgaben für altersbedingte
       Vorhaben auf jährlich 282 Milliarden Euro steigen. Für die Reparatur des
       anhaltenden Versagens in der Bildungspolitik gibt der Staat immer mehr Geld
       aus.
       
       Besser wäre der umgekehrte Weg. Je früher und massiver in Erziehung und
       Bildung investiert wird, desto höher ist später die Rendite für Wirtschaft,
       Gesellschaft und den Einzelnen. Betroffen sind vor allem zwei Gruppen:
       Frauen und Kinder. Mütter, die ihre Erwerbswünsche nicht erfüllen können
       und auf Beruf und Karriere verzichten müssen. Deutschland ist europäischer
       „Teilzeitmeister“. Mehr als zwei Drittel (69 Prozent) der Frauen mit
       minderjährigen Kindern arbeiten hierzulande in Teilzeit. Im EU-Durchschnitt
       ist es nur jede dritte Frau (34 Prozent).
       
       Die Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen hat für die Bundesregierung
       das größte Potenzial. Laut Studien liegt es bei derzeit nicht
       erwerbstätigen Müttern bei rund 840.000. In einem ansonsten reichen Land
       wie unserem ist „alleinerziehend“ inzwischen das größte Armutsrisiko.
       Kinder, die eine Kita besuchen, entwickeln sich besser, sind in der Schule
       erfolgreicher, verdienen später mehr und leben gesünder. Umgekehrt machen
       Kinder, die keine Kita besucht haben, seltener eine Berufsausbildung,
       werden eher kriminell und leben ungesund. Investitionen in Kitas lohnen
       sich ökonomisch und sozial am meisten.
       
       ## Jede achte Kita ist eine Sprach-Kita
       
       Dennoch investieren Bund und Länder zu wenig in die ersten Jahre. Die
       jüngste Entscheidung der Ampelkoalition, das [2][Programm der Sprach-Kitas]
       zu beenden, ist besonders fatal. Die jährlich 240 Millionen Euro sind gut
       angelegtes Geld. Von dem 2016 gestarteten Bundesprogramm haben bislang mehr
       als 500.000 Kinder profitiert. Gefördert wurden zusätzliche Kitafachkräfte,
       die ausschließlich für sprachliche Förderung in den Einrichtungen zuständig
       sind.
       
       Jede achte der bundesweit 58.000 Kitas ist eine Sprach-Kita. Begründet wird
       die Entscheidung mit dem Hinweis, dass die Zuständigkeiten für Kitas bei
       den Ländern liegen und diese doch nun die Finanzierung der Sprachförderung
       übernehmen können. Damit dreht der real existierende Föderalismus eine neue
       absurde Runde. Der Bund finanziert ein wichtiges Programm vor, ohne dabei
       sicherzustellen, dass die Länder die erfolgreich installierten Strukturen
       später auch weiterfinanzieren können.
       
       Im föderalen Bundesstaat gehört [3][Bildung zu den Kernaufgaben der
       Bundesländer]. Ökonomische und soziale Trends sprechen jedoch für
       Ausweitung des kooperativen Föderalismus und eine Intensivierung der
       Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. So erwarten Wirtschaft und
       Gesellschaft in einer vom Fachkräftemangel geprägten Zukunft mehr
       Bildungsgerechtigkeit und -qualität. Bildung, Integration und Zuwanderung
       gehören politisch zusammen.
       
       Warum sollen künftig Hunderttausende ausländische Fach- und Arbeitskräfte
       nach Deutschland kommen, wenn Bund und Länder bereits in den Kitas auf
       Sprach- und Integrationsförderung verzichten? Von den beiden weltoffenen
       und liberalen Integrationsparteien Grüne und FDP erwarten Wähler und
       Wirtschaft zu Recht mehr. Selbst die Unionsparteien fordern mehr Förderung,
       nachdem sie zuvor jahrelang das Kooperationsverbot in Bildungsfragen wie
       eine Monstranz vor sich hertrugen.
       
       ## Der Bund soll nicht alles bezahlen
       
       Kooperativer Föderalismus heißt aber nicht, dass der Bund alles bezahlt.
       Wer allein bezahlt, bestimmt am Ende alles. Eine Alleinfinanzierung des
       Bundes würde zu einer schleichenden Aushöhlung des Föderalismus führen, der
       zur Zentralisierung von Macht und Ohnmacht führt. Bildungsföderalismus ist
       nicht per se Mist, wie viele in Berlin auf Bundesebene behaupten. Ein
       föderaler Flickenteppich aber schon.
       
       Es braucht beides: mehr Investitionen des Bundes und mehr Commitment der
       Länder. Ein kooperativer Wettbewerbsföderalismus der besten Ideen setzt auf
       einheitliche Ziele und Standards, Monitoring und Evaluation. Der Bund
       sollte die (weitere) Finanzierung von der Erreichung gemeinsam definierter
       Ziele abhängig machen, die eine unabhängige Instanz – etwa eine Stiftung –
       überprüft und veröffentlicht. Ein Netzwerk und Bündnis von erfolgreichen
       Kitas wäre die Folge.
       
       Vor gut 200 Jahren leiteten Karl Freiherr vom Stein und Karl August von
       Hardenberg Staatsreformen ein, die zur Transformation des absolutistischen
       Stände- und Agrarstaates Preußen zum aufgeklärten National- und
       Industriestaat führten. Zu den drei Säulen der Reformen gehörten damals die
       Selbstverwaltung der Städte, eine weitreichende Bildungsreform und die
       Modernisierung des Heeres.
       
       Auf die Reformen folgte die wachstumsstärkste Phase in der deutschen
       Geschichte. 100 Milliarden Euro haben die Ampel-Parteien für eine bessere
       Ausstattung der Bundeswehr infolge des russischen Angriffskriegs in der
       Ukraine angekündigt, 20 Milliarden Euro für Tankrabatt und 9-Euro-Ticket
       bereits in diesem Jahr ausgegeben. Kinder gehen wieder einmal leer aus. Für
       die Zukunft ist das zu wenig. Deutschland droht die Versteinerung.
       
       20 Sep 2022
       
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