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       # taz.de -- Futuristische Hörspiele von RB und NDR: Klänge der Düsterwelten
       
       > Dystopien sind gerade hoch im Kurs. Radio Bremen und der NDR haben mit
       > „Cryptos“ und „Miami Punk“ zwei neue Romane hörbar gemacht.
       
   IMG Bild: Auch in der Zukunft wird es Waldhütten geben. Düstere Dinge können sich in ihnen abspielen
       
       Der finsterste Ort der Zukunft ist eine Waldhütte bei Salzgitter. Dort
       verbringt Diego, der fast vergessene Jugendfreund, seine Zeit zwischen den
       Auslandseinsätzen, bei denen er für die Bundeswehr Drohnenangriffe steuert.
       Und hierhin hat er seine ehemaligen Klassenkameraden Alba, Belit und Cobra
       zu einem Pen-&-Paper eingeladen. [1][Das sind Rollenspiele], zu denen die
       Teilnehmenden Charakterskizzen mitbringen, mit eigenen Namen, in diesem
       Fall Juanita, Javier und Lars.
       
       Diese Figuren bewegen sich dann, unterstützt durch einen Zufallsgenerator
       (hier ein 20er-Würfel), durch ein Setting mit diversen narrativen Strängen.
       In die hat nur der Gamemaster Einblick, der Gott der [2][Diegesis], vulgo
       der Erzählung. Also hier: Diego, der Wasseraufbereitungstabletten und
       unfassbare Mengen Einpersonen-Mahlzeiten in seiner Hütte hortet.
       
       Dem ist es extrem wichtig, dass seine Schulkamerad*innen bis zum Ende
       ausharren, also viereinhalb Stunden, neun Podcast- oder drei Sendungsfolgen
       im NDR. Die Partie dauert eben so lange, wie sie dauert. Widrigenfalls wird
       er echt ungemütlich.
       
       Im NDR-Hörspiel „Miami Punk – the complete DLC“ von Juan S. Guse ist das
       Setting des Pen-&-Paper-Spiels genau jenes Miami, das Juan S. Guse für
       seinen Roman „Miami Punk“ entworfen hatte. Dessen vielleicht durch die
       Klimakatastrophe verursachten Spezifika – der Atlantik hat sich von der
       Küste Floridas zurückgezogen und eine Wüste freigegeben, Alligatoren plagen
       die Bewohner der Stadt und ein Hochhaus-Komplex schwebt, von der Erde
       losgerissen, mit allen Insassen davon – sind für Diego, Cobra, Belit und
       Alba nicht weniger real als für ihre analogen Avatare.
       
       ## Vertrackte Beziehung zum Roman
       
       Sie gehören zu ihrer Wirklichkeit, so wie die unwirklichen Anschläge per
       Passagierflugzeug auf die Twintower von 2001. Es sind Katastrophen, die,
       ohne akut erinnert zu werden, als hintergrundrauschendes Weltwissen den
       gewöhnlich grauen Alltag mitgestalten. Vergessensmaterial.
       
       Dieses Hörspiel ist völlig eigenständig, unterhält aber eine vertrackte
       intertextuelle Beziehung zum [3][2019 veröffentlichten Roman]: Auf dessen
       lineare Stränge wird angespielt. Nie aber werden sie fortgesetzt,
       geschweige denn akustisch performt oder gar erzählt.
       
       Stattdessen lässt Guse seinen Gamemaster die Figuren wie Sonden an mehreren
       Punkten in die versehrte Landschaft Floridas hineinsenken, für die sein so
       fantastisches wie abstruses Buch vom Feuilleton [4][zurecht gefeiert worden
       war]: Sie bekämpfen als Mitglieder eines Ringervereins allein mit
       Wurftechnik und Muskelkraft die in der ganzen Stadt auftauchenden Krokos,
       im Dienste der früheren Küsten-, heute Wüstenwache gehen sie auf
       Patrouille, sie erkunden als dessen Bewohner die spukhaften Tiefgeschosse
       des schwebenden, gigantischen Rowdy Yates-Wohnkomplexes.
       
       Guse bindet diese Szenarien aber dank des einzigen tatsächlichen Spielorts,
       eben der abgelegenen, klaustrophobischen Prepper-Hütte, die „entschieden
       Serien-Killer-Vibes“ hat, wie es irgendwann heißt, viel stärker an die
       Gegenwart der Hörenden zurück: Ob der Abend eskaliert, wie sich der
       traumatisierte Spielleiter entwickeln wird, das ist die wahre Handlung.
       
       Sie ist nicht anspruchsvoller als die eines luschigen Vorabendkrimis und
       ermöglicht, auf ausgetüftelte futuristische Geräusche fast komplett zu
       verzichten. Bierzischen und Chipsknistern reichen, zwischendurch wird vorm
       Haus eine gequarzt, und die Glut frisst sich hörbar durch den Tabak.
       
       Umso spektakulärer wirken die cool bis unterkühlt von Regisseurin Iris
       Drögekamp eingesetzten Klanglandschaftsskizzen, die Nikolai von Sallwitz
       aus Ton- und Laut-Fragmenten komponiert hat. Aus ihnen scheint es nach
       elektrischen Funken zu riechen, die auf organische Verwesung treffen. Alles
       also sehr geschmackvoll in dieser düsteren Welt.
       
       Dystopien sind derzeit entschieden en vogue. Die Gründe dafür liegen, in
       einer Epoche, in der Verzweiflung ein Ausdruck von Realismus ist, auf der
       Hand. Die Unterschiede der gestalterischen Ambition auch: Mit dem
       Raffinement von Guses Balanceakt kann „Cryptos“ von Radio Bremen nicht
       mithalten. Will die Hörspielfassung von Ursula Poznanskis gleichnamigem
       Bestseller wohl auch nicht.
       
       [5][Wie die Vorlage zeigt auch sie] kein vertieftes Interesse an narrativen
       Problemen. So wird zunächst wie weiland bei Raumschiff Enterprise das
       Grundsätzliche geklärt: „Die Erde – in nicht zu ferner Zukunft“, raunt eine
       metallisch-ausgesteuerte Frauenstimme mit Hall und Atmo-Plinkerplimmplimm.
       „Das Klima ist gekippt, der Lebensraum knapp“ etcpp. Und darunter, leiser,
       leicht verzögert, wiederholt eine Männerstimme denselben Text.
       
       Dazu passt die plump-didaktische Veröffentlichungsstrategie: Während der
       NDR schon drei Wochen vor der Ursendung den gesamten Content in der App zum
       Download bereitgestellt hat, legt man in Bremen Wert auf Disziplin. Die auf
       zwei maximal azyklische Termine verteilte Ursendung – Sonntag, 18 Uhr, wenn
       sonst das niederdeutsche Hörspiel kommt, und Mittwoch 21.05 Uhr – war am
       11. und 14. 9. nur für ganz besonders treue Radio Bremen 2-Hörer*innen
       vollständig zu erhaschen. Die sechs 20-minütigen Podcastschnipsel aber
       werden schön eins nach dem anderen freigeschaltet, sonntagnachts, damit
       auch ja keiner binge-hört.
       
       Das Werk bleibt viel eher im Fiktionalen eingefriedet als Guses
       verunsichernd ins Jetzt und als Hörspiel direkt ins Hirn wuchernde
       Beinahewirklichkeit. Dafür erlaubt sich „Cryptos“ einen tollen
       erzählerischen Sog zu entfalten, den der hannoversche Autor gerade
       vermeidet.
       
       Bei Poznanski lässt sich die Menschheit, ähnlich wie in E.M. Fosters
       „Machine“ in Kapseln sediert, angesichts des Untergangs der Erde durch
       digitale Kunstwelten wie durch Träume gleiten. Die bietet ein
       monopolistisches Cyber-Unternehmen – Soft- und Hardware – an. Was hier
       geschieht, erfüllt alle Anforderungen an einen guten Fantasy-Thriller,
       künstlerisch unspektakulär, aber gekonnt straight gestaltet.
       
       ## Ein großartig ekliges Geräusch
       
       Erzählt wird von der Welten-Designerin Jana, in deren artifiziellen
       Digital-Habitaten gegen ihren Willen und zum Entsetzen des Managements eine
       ins System eingedrungene unkenntliche Figur ganz analog mordet, zum
       Beispiel indem sie andere Personen zerfließen lässt: Ein großartig ekliges
       Geräusch macht das.
       
       Janas Versuch, etwas dagegen zu unternehmen, fesselt, weil in Janine
       Lüttmanns Regie die Personen so plastisch wirken. Wo Guse bewusst nur die
       Charaktermasken A bis D miteinander in Konstellation bringt, ist hier das
       Anliegen, eine Protagonistin zu gestalten, mit der sich mitfühlen lässt –
       aller Fremdheit und zeitlicher Ferne zum Trotz.
       
       Und Elisa Schlotts Stimme zaubert diese Jana mal dösig verpeilt, mal
       neugierig, mal panisch und immer menschlich in den Raum. Das hat etwas
       Schönes, Tröstliches – wie ein Versprechen darauf, dass es auch in einer
       untergegangenen Welt noch ein Happy End geben wird, das ein hoffnungsvoller
       Anfang sein kann. Und nicht nur, wie bei Guse, das Ende.
       
       21 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Pen-&-Paper-Rollenspiel
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Diegesis
   DIR [3] https://www.fischerverlage.de/buch/juan-s-guse-miami-punk-9783103973938
   DIR [4] /Roman-Miami-Punk/!5587564
   DIR [5] https://www.loewe-verlag.de/titel-0-0/cryptos-9624/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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