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       # taz.de -- Verschwundene der Colonia Dignidad: Schweigend ins Grab
       
       > Gerhard Mücke, Gründungsmitglied der Colonia Dignidad, ist tot. Bis
       > zuletzt weigerte er sich, über das Schicksal Verschwundener aufzuklären.
       
   IMG Bild: Gerhard Mücke 1997 in Chile, noch vor seiner Verurteilung
       
       Santiago taz | Mit 88 Jahren ist am Wochenende Gerhard Mücke im Krankenhaus
       der chilenischen Stadt Cuaquenes gestorben. Mücke war Führungsmitglied der
       Colonia Dignidad, er hatte 1961 die Siedlung jener sektenartigen
       Gemeinschaft „Kolonie der Würde“ in Chile mitgegründet. Jetzt nimmt er
       Informationen mit ins Grab, die Angehörige von Verschwundenen so dringend
       gebraucht hätten.
       
       Mücke war der „Mann fürs Grobe“: Nach übereinstimmenden Berichten vieler
       Bewohner:innen der deutschen Siedlung, in der Prügel, unentlohnte
       Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt zum Alltag gehörten, schlug er
       besonders oft und hart zu.
       
       Er trainierte Einheiten der rechtsextremen paramilitärischen Vereinigung
       Patria y Libertad, die sich in der Colonia auf den Putsch vorbereiteten. Er
       kooperierte mit dem chilenischen Geheimdienst Dina, war an Verhaftung,
       Folter, Mord von Oppositionellen in der Colonia Dignidad beteiligt.
       
       Dutzende Gefangene wurden in der deutschen Siedlung nach Aussagen von
       Bewohner:innen [1][ermordet und in Massengräbern verscharrt], später
       wieder ausgegraben und verbrannt, ihre Asche im nahe gelegenen Fluss
       Perquilauquén verstreut.
       
       ## Jan Stehle: „Der Schweigepakt der Täter ist unerträglich“
       
       Wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung wurde Mücke 2016 in Chile
       rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilt. 2013 war er bereits zu elf
       Jahren wegen Beihilfe zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch
       chilenischer Kinder durch [2][Sektenchef Paul Schäfer] [3][verurteilt]
       worden. Wegen Beteiligung an Mord- und Folterfällen erhielt er weitere 6
       Jahre Haft.
       
       Seitdem saß Mücke seine Strafe im Gefängnis der chilenischen Kleinstadt
       Cauquenes ab, bis er ins Krankenhaus dieser Stadt verlegt wurde. Mehrere
       Versuche, ihn zum Sprechen zu bringen, damit er zur Aufklärung des
       Schicksals der in der Colonia Dignidad Verschwundenen beitrage, schlugen
       fehl.
       
       Bis heute wurde keine der in der Colonia Dignidad ermordeten Personen
       identifiziert, in Massengräbern auf dem weitläufigen Gelände werden aber
       weitere Leichen vermutet. Gerhard Mücke hätte zur Aufklärung beitragen
       können.
       
       „Der Schweigepakt der Täter wie Gerhard Mücke ist unmenschlich und
       unerträglich, insbesondere für die Angehörigen der Ermordeten. Bevor
       Informationen wie im vorliegenden Fall durch Versterben der Täter endgültig
       verschwinden, sollten die Strafverfolgungsbehörden – auch in Deutschland –
       alles daran setzen, mutmaßliche Täter*innen und Zeug*innen zu
       verhören. Die deutsche Justiz hat mit der [4][Einstellung aller
       Ermittlungen] in den letzten Jahren die Wahrheitsfindung jedoch ad acta
       gelegt“, sagt der Colonia Dignidad-Experte Jan Stehle vom Forschungs- und
       DokumentationszentrumChile-Lateinamerika in Berlin.“
       
       ## Neue chilenische Regierung will Aufklärung voranbringen
       
       Derweil will die chilenische Regierung die Suche nach den über 1.000
       während der Diktatur 1973 bis 1990 Verschwundenen mit einem nationalen
       Aktionsplan vorantreiben. Dafür wurden Angehörigenverbände von
       Verschwundenen aus ganz Chile zur gemeinsamen Planungssitzung mit der
       Regierung für kommenden Donnerstag nach Santiago eingeladen.
       
       „Seit sechs Monaten sind wir an der [5][Regierung], seitdem sehen wir uns
       in der Verantwortung, die schwere Geschichte unseres Landes aufzuklären“,
       erklärte Chiles Justizministerin Marcela Rios auch am 10. September bei
       einer Gedenkveranstaltung in der Colonia Dignidad, am „Kartoffelkeller“, wo
       Gefangene gefoltert wurden.
       
       Es war das erste Mal, dass Vertreter*innen der chilenischen Regierung
       an einer Gedenkveranstaltung in der ehemaligen Colonia Dignidad teilnahmen.
       
       ## Bis heute gibt es keinen Gedenkort
       
       Mit Musik, roten Nelken und Fotos der Verschwundenen gedachten
       Angehörigenverbände und Menschenrechtsorganisationen der auf dem Gelände
       Gefolterten und Ermordeten und forderten Aufklärung des Schicksals der
       Verschwundenen.
       
       Unter einem der Kundgebungsorte in der Ex Colonia Dignidad, der
       sogenannten „Feldscheune“, in der Strohballen gestapelt werden, befinden
       sich bisher kaum bekannte, mutmaßlich ebenfalls für Folterungen benutzte
       Kellerräume. Über eine mitgebrachten Leiter konnten die
       Kundgebungsteilnehmenden diesen Raum zum ersten Mal betreten.
       
       Einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernort gibt es bislang nicht auf dem
       Gelände, das sich inzwischen Villa Baviera nennt und von Tourismus und
       Landwirtschaft lebt. Zwar hatte der Deutsche Bundestag bereits 2017
       beschlossen, in der Colonia Dignidad begangene Verbrechen aufzuklären und
       auch einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernort zusammen mit der
       chilenischen Regierung einzurichten. Das zu befördern ist formell auch
       erklärtes Ziel einer deutsch-chilenischen Regierungkommission.
       
       Ein Team von deutschen und chilenischen Gedenkstättenexpert:innen
       hat vor über einem Jahr einen Entwurf für einen Gedenk-, Dokumentations-
       und Lernort [6][vorgestellt]. Doch die internationale Zusammenarbeit liegt
       in dieser Sache seit Monaten auf Eis.
       
       20 Sep 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ute Löhning
       
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