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       # taz.de -- Evangelikale gegen Referendum in Kuba: Sozialismus, Homoehe und die Fundis
       
       > Am Sonntag wird in Kuba per Referendum über ein Familiengesetz
       > abgestimmt. Es soll die Ehe für alle legalisieren.
       
   IMG Bild: Diskussion über das Familiengesetz in Kubas Hauptstadt Havanna, März 2022
       
       Berlin taz | Mitte 2018 war bei einem Spaziergang durch Havanna an den
       Türen einer ganzen Reihe von Häusern das gleiche Schild zu finden. Ein
       einfacher bedruckter Bogen, der eine weibliche Figur, eine männliche Figur
       und zwei kleinere zeigt: eine traditionelle Familie. Darunter stand: „Ich
       befürworte das ursprüngliche Design.“
       
       Es war eine organisierte Kampagne christlicher Kirchen in Kuba. Zu dieser
       Zeit fand die [1][Volksbefragung zum Entwurf der neuen Verfassung] statt,
       die dann 2019 verabschiedet wurde, und die erste Version des Dokuments
       beinhaltete die gleichgeschlechtliche Ehe. Artikel 68 regelte: „Die Ehe ist
       die freiwillig geschlossene Lebensgemeinschaft zwischen zwei
       geschäftsfähigen Personen.“
       
       Die von den religiösen Gruppen erzeugte Opposition war hartnäckig – so
       etwas hatte es noch nie gegeben. Schließlich wurde die Verfassungsklausel
       anders formuliert und die Frage der Eheschließung in das Familiengesetzbuch
       überführt. Darüber wird am 25. September in einem weiteren Referendum
       abgestimmt.
       
       Neben der Möglichkeit, zu heiraten, eröffnet das neue Familiengesetz auch
       nichtheteronormativen Paaren die Möglichkeit der Adoption, legalisiert die
       Leihmutterschaft und die künstliche Befruchtung oder
       In-Vitro-Fertilisation. Darüber hinaus wird die Kinderehe abgeschafft
       (bislang können Mädchen mit 14 und Jungs mit 16 Jahren heiraten, wenn beide
       Elternteile zustimmen) und Haus- und Sorgearbeit wird ausdrücklich
       anerkannt.
       
       ## Mobilisierung und Heilsversprechen gegen Abtreibung
       
       Die Kampagne für das „Nein“ kommt von den religiösen Gruppen und der
       politischen Opposition. Außerdem wird es Denkzettel-Neins geben – unter
       anderem als Ergebnis der allgemein [2][schlechten Lage und Verarmung], die
       die Wirtschaftsmaßnahmen der letzten Jahre gebracht haben. Auch wenn damit
       gerechnet wird, dass das Gesetz angenommen wird, weil es die volle
       Unterstützung des Staates hat, dürfte es dennoch kein einfacher Sieg
       werden.
       
       Yeyé Hernández Molina, eine Aktivistin für die Rechte von LGBTI-Personen,
       sagt, ihr sei schon vor Jahren die Zunahme von Fundamentalismen
       aufgefallen. „Als ich Professorin an der Universidad de Oriente (Santiago
       de Cuba) war, bemerkte ich, dass immer mehr Studenten am Wochenende
       Gottesdienste besuchten. Was mich überrascht hat, war die Größe der
       Organisation und die Anzahl der Menschen und der gesellschaftlichen
       Bereiche, die sie erreicht hatte“, sagt sie.
       
       Die Diskussionen über den Verfassungsentwurf fanden in Stadtvierteln und
       Betrieben statt. „In der Debatte an der Universität“, erinnert sich
       Hernández Molina, „haben sich jede Menge Wissenschaftler die Argumente der
       Evangelikalen zu eigen gemacht. Und das ist beängstigend.“
       
       Im März veröffentlichte das Online-Magazin [3][Periodismo de Barrio] eine
       Recherche darüber, wie bestimmte religiöse Antiabtreibungsgruppen im Osten
       des Landes arbeiten. Sie erreichen verarmte Gemeinden und sogar
       Krankenhäuser mit ihren Predigten von geistlicher Unterstützung und dem
       Versprechen auf „Erlösung“ und materielle Hilfe für werdende Mütter, falls
       sie sich entscheiden, die Schwangerschaft nicht abzubrechen. In Kuba wurde
       Abtreibung 1965 institutionalisiert, es gibt jedoch kein spezielles Gesetz,
       das sie schützt. Die Evangelikalen und Fahrlässigkeit seitens des Staates
       gefährden den uneingeschränkten Zugang zu diesem Recht.
       
       ## Der Staat knickt unter dem Druck ein
       
       Im vergangenen Jahr sollte die Resolution 16/2021 des Bildungsministeriums
       (MINED) ein umfassendes Sexualaufklärungsprogramm mit einem Ansatz zu
       Gender und sexuellen und reproduktiven Rechten in Schulen umsetzen. Es
       folgte eine weitere Runde mit Stellungnahmen der Kirchen, Beiträgen in
       sozialen Netzwerken sowie einer Botschaft der katholischen Bischöfe.
       
       „Für viele ehrenwerte Bürger wäre es schmerzhaft, sich in dem Dilemma
       wiederzufinden, ihre Kinder nicht zur Schule zu bringen oder sie demütig
       dem sektiererischen Bombardement einer Ideologie auszuliefern, die wir
       ablehnen“, erklärte die Baptistenkonvention von Westkuba. „Wir freuen uns
       darauf, dass unserer Bitte Rechnung getragen wird“, schloss das in Umlauf
       gebrachte Dokument.
       
       Und tatsächlich wurde das Programm auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, „bis
       die notwendigen Voraussetzungen geschaffen sind“, heißt es in einer
       [4][Mitteilung] des MINED. In der offiziellen Antwort wurde behauptet, die
       wirtschaftliche und epidemiologische Situation mache es unmöglich, die
       Herstellung von Lehrbüchern zu garantieren, und habe die Vorbereitung der
       Lehrer eingeschränkt.
       
       Der Soziologe Pedro Álvarez Sifontes, der das Christentum im Land
       untersucht, weist darauf hin, dass ein Antwortschreiben evangelikaler
       Kirchen nach eigenen Angaben von Tausenden von Menschen unterzeichnet
       wurde. Sie erreichten zwar keine Mehrheit der Bevölkerung, seien aber
       auffallend, betont der Experte. „Noch nie hat eine religiöse Gruppe eine
       solche Unterstützung erreicht.“
       
       ## Die permanenten Krisen ebnen den Weg der Evangelikalen
       
       Die Merkmale und Ursprünge des kubanischen christlichen Fundamentalismus
       sind ähnlich wie andernorts in Lateinamerika. Gemeinsam ist ihnen laut
       Álvarez Sifontes der Einsatz von Informationstechnologien, das dogmatische
       Lesen heiliger Texte, die sogenannte Theologie des Wohlstands und die
       Heilung, die spirituelle Gaben als den einzigen Weg zur Erlangung
       körperlicher Gesundheit preist.
       
       Der Boom der letzten Jahre wiederum ist das Ergebnis der derzeitigen
       Umstände und der jüngeren Geschichte der Insel. „Die in jeder Hinsicht
       permanenten Krisen, die Kuba seit geraumer Zeit durchlebt, ebnen den Weg
       dafür“, erklärt Yuniel de la Rua, ebenfalls Soziologe, der dieses Phänomen
       untersucht. Lange Perioden der Knappheit und Instabilität bringen Angst,
       Unsicherheit und letztendlich Hoffnungslosigkeit mit sich.
       
       „Ich denke, dass dieses Bedürfnis, eine Antwort zu haben, nach einem
       Anführer zu suchen, der die Probleme löst und etwas Sicherheit gibt, eine
       der Ursachen ist, die es diesen Gruppen ermöglicht, sich im Land
       auszubreiten“, bemerkt der Forscher.
       
       Aber auch jenseits der religiösen Sphäre finden sich konservative
       Positionen. Tatsächlich nähren sich Fundamentalismen aus dem Mangel an
       Rechtskultur, gepaart mit Machismo und Homophobie, die schon immer in der
       kubanischen Gesellschaft vorhanden waren. Auch viele Menschen, die sich zu
       keinem Glauben bekennen, beziehen Stellung gegen die Ausweitung von Rechten
       für die LGBTI-Gemeinschaft und andere Gruppen.
       
       ## Keine Partei, aber großer Einfluss auf Entscheidungsträger
       
       Im Übrigen geraten auch liberale Gläubige ins Visier der Fundamentalisten.
       Haydee Padrón Rodríguez, Pastorin der Bethania Baptist Church, sieht sich
       diskriminiert, weil sie eine Frau und alleinerziehende Mutter ist. Die
       fundamentalistische Expansion verändert das Bild von Kirche: „Das Erste,
       was sie fragen, ist: ‚Was ist in Ihrer Kirche verboten?‘ Und wenn wir
       sagen, dass nichts verboten ist, denken sie, dass wir zu liberal sind“,
       sagt sie.
       
       Padrón Rodríguez arbeitet im Kulturhaus ihrer Gemeinde Perico (Matanzas).
       „Dort betreue ich vom Afronachkommen bis zum Bauern“, betont sie. „Aber
       mich auf einem Festival afrikanischer Traditionen zu sehen, ist für
       Fundamentalisten eine Provokation, eine Todsünde.“
       
       Beide Experten sind sich einig, dass die religiösen Gruppen in Kuba im
       Gegensatz zu anderen Gebieten der Region noch keine Vertretung in der
       politischen Sphäre haben. Trotzdem aber, betont Álvarez Sifontes, üben sie
       Einfluss auf Entscheidungsträger aus, insbesondere auf kommunaler Ebene.
       
       In einem Artikel von September 2020 warnte die Akademikerin und Feministin
       Aylinn Torres Santana: „Neokonservatismen aller Art und insbesondere die
       religiösen […] testen erneut ihre Fähigkeit zur Mobilisierung und zum
       Ausüben politischen Drucks. Dabei geht es nicht nur um Fragen der
       Sexualmoral. Heute sind sie eine Kraft mit einer umfassenden und
       ausgesprochen politischen Agenda.“
       
       ## Der Staat will die frontale Konfrontation vermeiden
       
       Aktivistin Yeyé Hernández Molina sagt, dass diese Gruppen mehr Wurzeln
       außerhalb der Städte haben. „Das Problem ist, dass in ländlichen Gebieten
       die Kirche alles ist; sie wird schließlich zum kulturellen Zentrum, das
       auch eine Reihe von problematischen Situationen löst. […] Sie wachsen dort,
       wo der Staat nicht hinkommt und wo die Menschen keine andere Wahl haben.
       Nicht nur in Kuba: Das Muster ist auf der ganzen Welt das gleiche“, fügt
       sie hinzu.
       
       Aber wie ist es möglich, dass sonst jede abweichende Meinungsäußerung auf
       [5][Repression] stößt, das Auftreten der Fundamentalisten aber nicht? „Ich
       denke, dass die Regierung frontale Konfrontation vermeidet, die mehr Feinde
       schaffen könnte; jede Reibung mit diesen Gruppen kann zu einer sozialen
       Krise führen, da sie immer mehr Einfluss in den Lücken haben, die der Staat
       nicht besetzt“, sagt Álvarez Sifontes. Pastorin Padrón Rodríguez fügt
       hinzu, dass den Beamten mitunter einfach das Wissen über religiöse Fragen
       und die verschiedenen Konfessionen fehle.
       
       Der säkulare Charakter des kubanischen Staates impliziert eine gewisse
       Vorsicht bei öffentlichen Stellungnahmen gegenüber Religionen. „Der Staat
       ist zutiefst besorgt über den Aufstieg des Fundamentalismus und hat sich
       dem Versuch verschrieben, ihn zu verstehen“, sagt De la Rua und nennt als
       Beispiel die Treffen zwischen Präsident Miguel Díaz-Canel und mehreren
       religiösen Führern. „Ich denke, das grundlegende Problem ist Ignoranz,
       Unwissenheit, Angst; und diese Dinge werden nicht per Dekret vermieden oder
       beseitigt“, sagt der Forscher.
       
       Die Experten plädieren für Partizipation, Dialog, Bildung und die
       Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. „Der Dialog zwischen denen, die die
       gleichen Kriterien haben, ist sehr bequem. Aber ich glaube, dass wir gerade
       mit denen ins Gespräch kommen müssen, die anderer Meinung sind“,
       argumentiert De la Rua.
       
       Aber das ist in einem zentralisierten System schwer zu machen. Der
       Zivilgesellschaft bleibt kaum Raum für eigene Initiativen, und nach sechs
       Jahrzehnten binärer und ausschließender politischer Rhetorik – „alles
       innerhalb der Revolution, nichts gegen die Revolution“, wie es Fidel Castro
       1961 proklamierte – sind viele Menschen auf diese Art des
       Freund-Feind-Diskurses konditioniert.
       
       Hernández Molina glaubt, dass der kubanische Staat nicht bereit ist, sich
       dem Phänomen zu stellen – und dass Aktivisten auch nicht über die
       notwendigen Werkzeuge verfügen. „So sehr es uns auch belastet, es ist
       etwas, das weiter wachsen wird. Ich bin in diesem Sinne nicht sehr
       optimistisch“, gesteht er, „weil dies außerdem eine globale Maschinerie
       ist, gut geölt, mit allen Ressourcen. Es wird sehr schwierig für uns, da
       herauszukommen. Aber hey, wir versuchen es zumindest.“
       
       Aus dem Spanischen: Bernd Pickert
       
       24 Sep 2022
       
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