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       # taz.de -- Strenges Null-Covid-Regime in China: Neue Chinesische Mauer
       
       > In China herrscht eine strenge Zero-Covid-Politik. Das heißt: täglich
       > testen und Sensoren vor der Haustür zur Messung der Körpertemperatur.
       
   IMG Bild: Radikal steriles Fliegen: Stewardessen in Seuchenschutzanzügen
       
       Aus Peking taz | Während der Ming-Dynastie wurde die Chinesische Mauer
       errichtet, um ausländische Invasoren vom Reich der Mitte fernzuhalten. Seit
       Beginn der Pandemie ist die Volksrepublik China erneut zur Festung
       geworden: die vielleicht [1][letzte „Null Covid“-Bastion der Welt].
       
       Als ich die Gangway zur Boeing 737 betrete, verlasse ich endgültig jene
       „Leben mit dem Virus“-Realität, wie ich sie in den vergangenen Wochen in
       Deutschland schätzen gelernt habe; eine nahezu postpandemische
       Wirklichkeit, in der die Leute am Wochenende wieder in Fußballstadien gehen
       und über die Sommerferien in den Strandurlaub fahren.
       
       Nun beginnt meine Odyssee zurück [2][nach China]. Hier sehen die
       Stewardessen aus wie Marsmenschen, deren weiße Seuchenschutzanzüge ihre
       Körper vom Haaransatz bis zu den Fingerspitzen bedecken. Sie laufen durch
       den Flieger mit riesigen Desinfektionssprays, die wie Flammenwerfer um ihre
       Hüften geschnallt sind.
       
       Der Kontrast zwischen den zwei Welten könnte größer nicht sein: Erstmals
       seit Ausbruch der Pandemie habe ich diesen Sommer meine Berliner Heimat
       besucht. Ich war auf Familienfeiern, habe in Redaktionskonferenzen
       debattiert und in lärmenden Eckkneipen alte Schulfreunde wiedergetroffen.
       In Peking hingegen stand ich täglich für PCR-Tests an und habe aus
       [3][Angst vor einem drohenden Lockdown] Reis, Pumpernickel und Tomatendosen
       gehortet.
       
       ## Coronadiktatur in echt
       
       Während sich die Deutschen leidenschaftlich über die Maskenpflicht in der
       Bahn beschweren, stand vor meiner Wohnung rund um die Uhr ein Mann in
       schwarzer Uniform und roter Binde, der den Gesundheitscode auf meinem
       Smartphone verlangt hat. In Deutschland mögen einige Verklärte von einer
       angeblichen Coronadiktatur faseln. Ich habe sie tatsächlich erlebt.
       
       Die Volksrepublik China, wie viele Ausländer derzeit, zu verlassen, ist
       tatsächlich kein Problem. Doch zurückzukehren bringt selbst den härtesten
       Stoiker an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Man fühlt sich wie die
       Comicfigur Asterix, die im „Haus der Verrückten“ verzweifelt den
       „Passierschein A38“ besorgen möchte: Dutzende bürokratische Hürden müssen
       überwunden werden, jede einzelne mutet an wie der Aufstieg zum Mount
       Everest.
       
       Die erste Herausforderung ist das Ticket. Nach wie vor hat die
       Volksrepublik China ihre internationalen Flugverbindungen um über 95
       Prozent gedrosselt. Die riesige Nachfrage bei winzigem Angebot hat die
       Preise derart in die Höhe getrieben, dass ein Direktflug zwischen Frankfurt
       und Shanghai mittlerweile so viel wie ein japanischer Kleinwagen kostet:
       Für unter 10.000 Euro war im Sommer nichts mehr zu haben. Transitflüge nach
       China wurden jedoch im Zuge der Pandemie verboten.
       
       Es sei denn, und dafür habe ich mich entschieden, man bleibt zuvor drei
       Wochen lang in einem Drittland. Meine Wahl fiel auf Südkorea, eine der
       wenigen Destinationen, die noch über regelmäßige Flüge in die Volksrepublik
       verfügen. Die Grundvoraussetzung für diese Marathonodyssee ist jedoch,
       jederzeit negativ zu bleiben: Wer sich mit Covid infiziert, hat seine
       Rückkehrchancen auf Monate verspielt – und Tausende von Euro in den Sand
       gesetzt.
       
       Noch aber genieße ich die Freiheit, die ich in China so vermisst habe: In
       Seoul besuche ich Museumsausstellungen, öffentliche Proteste und
       Livekonzerte. Ich stelle fest, dass mich die letzten Monate in der „Null
       Covid“-Bastion Peking ziemlich traumatisiert haben: Ohne negativen
       Covidtest konnte ich zuletzt nicht einmal den Supermarkt um die Ecke
       betreten, und selbst vor meiner eigenen Wohnung hat das
       Nachbarschaftskomitee eine Kamera installiert, um die Körpertemperatur
       eines jeden Bewohners zu erfassen.
       
       An Reisen, selbst ins direkte Umland, war nicht zu denken: Die Gefahr,
       unverhofft in einen Lockdown zu geraten, schwebte wie ein Damoklesschwert
       über unseren Köpfen.
       
       ## Testen, testen, testen
       
       Eine Woche vor dem Abflug trübt die Covidparanoia meine letzten Tage in
       Freiheit. Die bürokratischen Anforderungen der chinesischen Behörden sind
       derart komplex, dass wir uns in Selbsthilfegruppen auf der App „Wechat“ zu
       Hunderten zusammentun, um uns Ratschläge und Mut zuzusprechen.
       
       Sieben Tage vor Abflug muss ich jeden Morgen der Fluglinie meine
       Temperatur, vier Tage vor Abreise den ersten autorisierten Antigen-Test
       schicken. 48 Stunden vor Abflug folgt der erste PCR-Test, 24 Stunden später
       der zweite – in unterschiedlichen Kliniken durchgeführt, mit jeweils
       anderen Reagenzverfahren.
       
       Ich staune selbst am meisten darüber, dass ich am Ende alle Dokumente habe.
       Am Flughafen angekommen, schickt mir die chinesische Botschaft endlich den
       „Gesundheitscode“.
       
       Nur mit ihm darf ich das Flugzeug betreten. Dass der nervenaufreibendste
       Teil meiner Rückreise erst noch vor mir liege, ahnte ich damals noch nicht.
       
       In der südchinesischen Küstenstadt Xiamen werden wir Einreisenden wie
       Aussätzige behandelt. Vom Flughafen über die Busfahrt bis zum
       Quarantänehotel bekommen wir niemand ohne Seuchenschutzanzug und
       medizinische Handschuhe zu Gesicht.
       
       Die nächsten elf Tage verbringe ich auf 15 Quadratmetern in einem in die
       Jahre gekommenen Hotelzimmer. Meine Tür darf ich nur einen Spalt weit
       öffnen, um das Essenstablett abzuholen – und das auch nicht zu lange. Sonst
       heult ein automatischer Alarm auf.
       
       Jeden Morgen werde ich von einem der weißen Marsmenschen zum täglichen
       PCR-Test aus dem Bett geklingelt. Das Ritual erinnert mich an einen
       Gottesdienst: Ich knie mich hin, doch bekomme statt Oblate einen Stab in
       den Mund – stets derart tief in den Rachen, bis mein Würgereflex einsetzt.
       Auch mein Handy, Koffer und Kissen werden mehrfach mit einem Wattestäbchen
       auf das Virus überprüft. Als die elftägige Quarantäne schließlich zu Ende
       geht, bin ich ein knappes Dutzend Mal negativ getestet.
       
       Doch vorbei ist der Spuk noch lange nicht. Die Stadt Xiamen, in der ich
       gelandet bin, hat in den letzten Tagen einen Infektionsausbruch der
       Omikron-Subvariante BA.2 gemeldet.
       
       ## Ausnahmezustand fast ohne Grund
       
       Trotz nur knapp 40 Fällen innerhalb einer Woche herrscht Ausnahmezustand:
       Alle der über vier Millionen Einwohner werden zum täglichen Massentest
       bestellt, selbst die importierten Fische müssen sich PCR-Tests unterziehen.
       
       Was zunächst nach einer Parodie klingt, bestätigten die Zollbehörden mit
       patriotischem Stolz als notwendige Schutzmaßnahme. Erst als chinesische
       Internetnutzer unter Häme und Spott anmerkten, dass Fische über Kiemen
       verfügen und sich nur schwer mit einer Atemwegserkrankung infizieren
       können, löschten die Zensoren sämtliche Meldungen.
       
       Mir entlockt die kollektive Psychose namens „Null Covid“ längst kein
       Gelächter mehr. Der persönliche Albtraum seit meiner Ankunft scheint kein
       Ende zu nehmen: Erst nach stundenlangen Telefonaten kann ich die Behörden
       in Xiamen dazu überreden, mich zumindest zum Hauptbahnhof zu lassen.
       
       Doch bereits im Zug nach Peking werde ich von drei freundlichen Polizisten
       abgefangen – und, da Xiamen mittlerweile zum Hochrisikogebiet erklärt
       wurde, 24 Stunden später erneut in Quarantäne gesteckt: Das
       Nachbarschaftskomitee hat kurzerhand einen Sensor vor meiner Tür
       installiert, der jede Öffnung registriert.
       
       Nach 30 Tagen, drei Flügen, zwei Quarantänezentren, 14 PCR-Tests und einer
       Zugfahrt habe ich Peking erreicht. Wann ich jedoch in die Freiheit
       entlassen werde, entscheidet der Algorithmus. Erst wenn der Gesundheitscode
       auf meinem Handy grün leuchtet, darf ich meine Wohnung verlassen. Die
       nächsten fünf Tage wird er weiterhin in alarmierendem Rot blinken.
       
       21 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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