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       # taz.de -- Zukunft der Klimabewegung: Dynamit ändert das System nicht
       
       > Klimaschutz geht zu langsam. Aber deshalb fossile Infrastruktur
       > anzugreifen, wäre moralisch, politisch und strategisch falsch – und
       > kontraproduktiv.
       
   IMG Bild: Die Castorproteste haben mehr erreicht als die RAF: Aktion nahe Lüneburg im November 2011
       
       Die Klima-Guerilla hat es geschafft – zumindest bis an die Universität.
       „Wie man eine Pipeline in die Luft jagt – [1][Radikalisierungsdiskurse] in
       der Klimabewegung“ lautet ein Seminar, das im kommenden Wintersemester bei
       den Politikwissenschaftlern an der Westfälischen Wilhelms-Universität
       Münster stattfindet. In der Ankündigung heißt es: „Die weltweite
       Klimabewegung hat in den letzten Jahren enormen Zulauf erhalten. Da
       substantielle Reaktionen der zentralen Adressat*innen weitgehend
       ausbleiben, werden Fragen der Radikalisierung in der Bewegung verstärkt
       diskutiert. Für einen wissenschaftlichen Blick auf das Phänomen
       Radikalisierung nehmen wir das Buch ‚Wie man eine Pipeline in die Luft
       jagt‘ als Ausgangspunkt. Daran anknüpfend beschäftigen wir uns mit der
       Legitimation radikaler Handlungsformen, der Diskussion über die
       Effektivität und den bewegungsinternen Debatten über Radikalisierung.“
       
       Man darf gespannt sein auf das Seminar. Und auf die Debatte, die das Thema
       „Gewalt gegen fossile Infrastruktur“ jenseits der akademischen Zirkel
       auslösen wird. Die Situation jedenfalls ist treffend beschrieben: Weil die
       Klimakrise ungebremst eskaliert und sich keine echte Lösung zeigt, denkt
       zumindest ein Teil der Klimaschutzbewegung darüber nach, die Gangart zu
       verschärfen.
       
       [2][Wenn sich die „Letzte Generation“ im Berufsverkehr auf die
       Stadtautobahn klebt] oder andere AktivistInnen vor „friedlicher Sabotage“
       oder brennenden Autos in den Innenstädten warnen, ist eine neue
       Eskalationsstufe im Kampf gegen die Erderwärmung erreicht. Weil
       Latsch-Demos, Baumbesetzungen, Schulstreiks, die Blockade von Tagebauen,
       private Debatten am Frühstückstisch und sogar Klima-AktivistInnen in
       Parteien und Parlamenten keinen schnelleren Kohleausstieg, keinen
       Ausbau-Boom der Erneuerbaren und keinen Pfad zur Erreichung des
       1,5-Grad-Ziels bringen, denken Einzelne offenbar über „direkte Aktionen“
       nach. Schon malen AktivistInnen und JournalistInnen genüsslich das Gespenst
       einer „grünen RAF“ an die Wand.
       
       Eine solche Militarisierung der Klimaproteste wäre allerdings ein schwerer
       moralischer, politischer und strategischer Fehler. Direkte Gewalt gegen
       Kohle-, Öl- und Gasinfrastruktur im Sinne von „Macht kaputt, was Euch
       kaputt macht!“ brächte vielleicht kurzfristig Scheinsiege. Ein symbolischer
       Fortschritt auf dem Weg zur Dekarbonisierung wäre ein bejubeltes Ventil für
       den verständlichen Frust vieler AktivistInnen. Aber er würde zynisch die
       Gefährdung von Menschen und Natur in Kauf nehmen, um angeblich Menschen und
       Natur zu retten.
       
       ## Wichtigste Hebel in Gefahr
       
       Eine solche Strategie würde mit ziemlicher Sicherheit nach hinten losgehen
       und der Klimabewegung ihre wichtigsten strategischen Hebel nehmen: die
       Bereitschaft der Bevölkerung zur Veränderung. Und vor allem: die moralische
       Ausrichtung der Umweltbewegung im Streben nach einer besseren und
       gerechteren Welt.
       
       Denn wenn sich aus der Protestgeschichte der Bundesrepublik etwas lernen
       lässt, dann dieses: Die Revolution findet nicht statt, zumindest nicht mit
       Gewalt. Der Versuch der RAF, einem anderen Staat und dem Aufstand des
       Proletariats den Weg freizuschießen, endete in Blutvergießen, großem
       persönlichen Leid von Schuldigen und Unschuldigen, der Abkopplung von
       isolierten revolutionären Terrorzellen und der völligen Diskreditierung
       ihres Anliegens, der Reform der Gesellschaft. Der Staat rüstete auf, die
       Szene wurde von Spitzeln durchsetzt, weite Teile der Bevölkerung fühlten
       sich bedroht statt befreit und stimmten der massiven Einschränkung ihrer
       Grundrechte zu. Am Ende war die Bundesrepublik repressiver als zuvor.
       Wirklichen Wandel in Politik, Gesellschaft, Medien und Justiz bewirkten
       dagegen die Biographien von Menschen, die sich trotz Berufsverboten auf den
       „langen Marsch durch die Institutionen“ machten.
       
       Das gleiche wäre bei einer Öko-RAF zu erwarten: Nach ein paar gelungenen
       Anschlägen auf Gas-Pipelines (man stelle sich so ein flammendes Inferno mit
       vielen Verletzten oder Toten vor, wenn etwas schief geht) würde der Staat
       massiv zurückschlagen: Spitzel würden die Szene verunsichern, neue Gesetze
       die Jagd auf AktivistInnen legalisieren, das Umfeld von Umweltverbänden,
       Thinktanks und Medien würde kriminalisiert. Es ginge nicht mehr um die
       Frage, ob das Gas klimaschädlich ist, sondern darum, wie man die Täter
       dingfest macht. In dieser Debatte wären die KlimaschützerInenn die
       Schuldigen – und in einer zynischen Umkehrung der Realität wären die
       Energiekonzerne mit ihren Klimakillern plötzlich Opfer statt Täter. Die
       Umweltbewegung würde sich über Jahre selbst fesseln durch eine Debatte, wie
       weit man sich abzugrenzen habe – statt gemeinsam gegen das fossile System
       zu kämpfen.
       
       ## Woher rührte der Erfolg der Castor-Proteste?
       
       Die Geschichte des deutschen Öko-Widerstands lehrt aber auch, wie es gehen
       kann: [3][Die Proteste gegen die Castor-Atomtransporte ins Wendland waren
       wütend], über Jahrzehnte nachhaltig und schließlich erfolgreich. Denn sie
       wurden von einer politischen Bewegung getragen, die in Behörden und
       Parlamente vordrang, Alternativen entwickelte und für breite Zustimmung
       warb. Vor allem aber war allen Castor-GegnerInnen immer klar: So direkt und
       phantasievoll die Trecker-Blockaden rund um Gorleben auch waren – der
       Atommüll würde sein Ziel erreichen. Es ging darum, Widerstand sichtbar zu
       machen, die Transporte zu delegitimieren und die politischen und
       finanziellen Kosten der Atomenergie in die Höhe zu treiben.
       
       Diese Einsicht muss sich auch bei den Fossil-Protesten breitmachen: Selbst
       wenn hier und dort eine Pipeline in die Luft fliegen sollte, ändert das
       nichts an der Versorgung mit fossilen Rohstoffen. Es würde nicht den
       politischen, sondern den Preis an der Zapfsäule erhöhen, es brächte die
       Menschen gegen die „Terroristen“ auf und würde den Konzernen Extragewinne
       in die Kassen spülen. Nur ein groß angelegter militärischer Konflikt könnte
       tatsächlich die deutsche Infrastruktur so beschädigen, dass sie in kurzer
       Zeit aufhören würde, CO2 in die Luft zu blasen. Zu welchen Opfern, Leiden
       und Verbrechen das führt, lässt sich derzeit beim russischen Überfall auf
       die Ukraine beobachten. Es kann nicht Aufgabe der Klimabewegung sein, der
       himmelschreienden Ungerechtigkeit der Erdüberhitzung durch Verbrechen der
       verbrannten Erde zu begegnen.
       
       Statt einer Militarisierung sollte die Klimabewegen sich radikalisieren.
       Denn es stimmt ja, dass sich sehr schnell sehr grundlegende Dinge ändern
       müssen, wenn das gefährliche Karussel der Klimakrise gebremst werden soll.
       
       ## Vorschläge im Guten
       
       Was also tun, wenn man nicht Pipelines in die Luft jagen will? Ihnen
       vielleicht die Luft rauslassen: mit Klagen gegen Betriebsgenehmigungen, dem
       Einfordern eines Paris-kompatiblen CO2-Budgets für die öffentliche
       Infrastruktur.
       
       Die Klimabewegung könnte deutlicher strategische Hebel definieren, an denen
       sie mit Streiks, Demos, Klagen, Blockaden und persönlichem Lobbying ziehen
       will. [4][Etwa den nächsten Bundesverkehrswegeplan radikal umschreiben],
       der Straßenbau für Jahre zementieren soll. Den Ausbau der Erneuerbaren
       vorantreiben und auch in den Umweltverbänden die Konflikte mit den
       Naturschutz lösen. Eine große Kampagne zum Energiesparen wie „Geiz ist
       geil“ lostreten. Förderer und Bremser des Klimaschutzes in Regierung und
       Industrie noch klarer machen und individuelle Rechenschaft fordern. EU-weit
       und international koordinieren, auf welche Forderung man sich konzentriert,
       etwa einen globalen Vertrag zur Ächtung der fossilen Brennstoffe.
       
       Es ist nicht meine Aufgabe, der Umweltbewegung vorzuschreiben, was sie zu
       tun hat. Eher noch, was sie besser lassen sollte: den Irrweg in geheime
       militante Aktionsformen zu nehmen, die für Mensch und Natur zu großer
       Gefahr führen können und die Stellung des fossilen Systems stabilisieren,
       das doch gerade kräftig ins Wanken gerät. Mit Dynamit ändern wir nicht das
       System. Wir spielen auch so schon genug mit dem Feuer.
       
       21 Sep 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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