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       # taz.de -- Die Wahrheit: Sackhüpfen mit Knallgeräuschen
       
       > Kollektive Adoleszenzverweigerung: Noch nie haben so wenige junge
       > Menschen in Deutschland gelebt wie heute.
       
   IMG Bild: Das waren noch Zeiten, als Jugendliche nur Party machten
       
       Der Pausengong ertönt an der gymnasialen Oberstufe der Hegelsbergschule.
       Die Türen des Funktionsbaus öffnen sich, ohrenbetäubendes Kreischen dringt
       aus Dutzenden Kehlen. Kurz darauf wird Fangen gespielt, die Schülerinnen
       rennen kreuz und quer über den Hof. Mittendrin: die Aufsichtslehrerin
       Christina Ernst. Ihr Versuch, zwei Achtzehnjährige, die einander an den
       Haaren ziehen, auseinanderzutreiben, misslingt. Der Hausmeister eilt zu
       Hilfe, wird aber von einer Abiturientin im Shaun-das-Schaf-T-Shirt
       umgerannt. Schließlich gelingt beiden die Flucht in eine ruhigere Ecke.
       
       „Früher haben sie heimlich gekifft oder sich eine stille Ecke zum
       Rumknutschen gesucht“, keucht Ernst, „das war nicht unbedingt besser, aber
       doch friedlicher“. Das Leben an der Oberstufe der Gesamtschule war schon
       mal leichter, da sind sich beide einig. „Wenn sie wenigstens handysüchtig
       wären“, ächzt Hausmeister Gehrke, ein paar leere herumliegende Quetschies
       auflesend. „Dann hätte man hin und wieder seine Ruhe.“
       
       Hier auf dem Pausenhof lässt sich beobachten, was bisher kaum mediale
       Aufmerksamkeit fand: In Deutschland gibt es immer weniger Jugendliche. Doch
       heißt das folglich, dass es generell an Nachwuchs mangelt? Oder verlassen
       junge Erwachsene massenhaft das Land?
       
       „Die Adoleszenz erfährt seit Jahren einen massiven Attraktivitätsverlust“,
       erklärt uns Kinder- und Jugendpsychologin Dr. Barbara Schmitt, die wir auf
       dem Hof der Gesamtschule treffen. „Die Folge: Junge Menschen, die mit 14
       Jahren eigentlich dem Kindesalter entwachsen, weigern sich, in den Stand
       der Jugendlichen einzutreten und halten am kindlichen Lebensentwurf fest.“
       Kollektive Adoleszenzverweigerung nennt sie das Phänomen.
       
       ## Image der Jugend
       
       Doch woher rührt das schlechte Image der Jugend? „Jugendlich zu sein, hat
       schon immer Nachteile mit sich gebracht.“, erklärt Schmitt, „Liebeskummer,
       Akne, ungewollte Erektionen, um nur ein paar zu nennen“. Vor ihr fällt ein
       Zwölftklässler von seinem Tretroller. Schmitt tröstet ihn, pustet da, wo
       es Aua macht (Knie) und wischt ihm mit einem Feuchttuch den Rotz vom Bart.
       
       „Neu ist, dass auch die Vorteile wegfallen: Die verheerenden Folgen von
       Rauschmitteln sind mittlerweile jedem bekannt, Autos gelten als
       Luftverpester, über Sex lernt man im Internet und die Musik ist auch nicht
       mehr das, was sie mal war.“ Wie aufs Stichwort ertönt ein Lied der
       Kinder-Hip-Hop-Gruppe „Deine Freunde“ aus einer Boombox. Die Oberstufler
       hüpfen begeistert auf und ab, ohne dabei den Takt der Musik zu treffen.
       
       Nach Schulschluss treffen wir Leon in der Kantine. Mit Schokopudding und
       zwei Folgen Paw Patrol konnten wir den 18-Jährigen für ein Gespräch
       gewinnen. „Hmm, weiß nicht“, antwortet er auf die Frage, warum er nicht wie
       andere Jugendliche sein will. „Ich finde die doof.“ – „Und interessierst du
       dich gar nicht für Mädchen oder Jungs?“, haken wir nach, „Oder für Autos?“
       Leons Augen leuchten: „Ja, Autos sind cool! Guck mal!“ Er holt drei
       Hot-Wheels-Autos aus seinem Rucksack und lässt sie auf dem Tisch wiederholt
       ineinander krachen. Dazu macht er Brems- und Knallgeräusche: „Pchhh!
       Bschhh! Dschhh!“
       
       Wir ermahnen ihn, die Autos sofort wieder einzupacken, unter der Androhung,
       bis drei zu zählen. Als wir ihn anschließend fragen, ob sein Verhalten
       nicht den Berufseinstieg erschwere, stößt er mit dem Stuhl kippelnd
       Affenschreie aus. Wir entlassen ihn vorzeitig auf den Heimweg.
       
       ## Statistiken zur Verweigerung
       
       Nicht nur den Riesenkindern ist wenig Sinnvolles zum Thema zu entlocken. Es
       gibt außerdem kaum Zahlen und Statistiken zur Adoleszenzverweigerung. Nur
       aus der Wirtschaft kommen eindeutige Signale.
       
       „Gangsta-Rap-Labels, Pornoplattformen und Energydrinkhersteller beklagen
       stetig sinkende Absatzzahlen“, erklärt Dr. Schmitt, „auch mangelt es an
       qualifiziertem Personal in der Baby- und Hundesitterbranche.“ Strategien
       zur Imageverbesserung der Jugend fehlen ebenfalls. Schmitt zuckt die
       Achseln: „Mal ehrlich: Würden Sie gerne noch mal sechzehn sein? Eben! Und
       wenigstens sehen sie beim Herumtollen ganz niedlich aus. Schauen Sie: Jetzt
       machen sie Sackhüpfen!“
       
       Die Sorge einiger Beobachter, die Adoleszenzverweigerer könnten niemals aus
       der Kindheit herauswachsen, kann Schmitt zumindest ausräumen: „Spätestens
       mit Mitte, Ende zwanzig setzt dann die plötzliche Erwachsenwerdung ein,
       ausgelöst durch ein Initialerlebnis, wie der Auszug aus der WG oder der
       Antritt einer Promotionsstelle. Dann verhalten sie sich plötzlich wie
       gewöhnliche Erwachsene, schließen Hausratversicherungen ab, sind chronisch
       übermüdet und legen sich Untersetzer-Sets und Duschkabinenabzieher zu. Wie
       alle anderen auch.“
       
       Eine dann doch wenigstens halbwegs beruhigende Entwicklung!
       
       28 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Leo Riegel
       
       ## TAGS
       
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