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       # taz.de -- Zensur in Chinas Kino: Von der Berlinale zur Zensurbehörde
       
       > In China wurde der Film „Return to Dust“ zum Erfolg. Doch sein
       > authentisches Bild des harten Landlebens wurde zum Opfer der Zensur.
       
   IMG Bild: Der Film erzählt von der Liebe zwischen einem verarmten Bauern und einer Frau mit Behinderung
       
       Dass „Return to Dust“ überhaupt jemals auf chinesische Kinoleinwände
       projiziert wurde, ist bereits ein kleines Wunder. Denn der sperrige Film,
       der die unkonventionelle Liebesgeschichte zwischen einem verarmten Bauern
       und einer körperlich behinderten Frau erzählt, wartet mit all jenen
       Eigenschaften auf, die in der Volksrepublik das Publikum verschrecken und
       die Zensurbehörden auf den Plan rufen: ein niedriges Budget, statische
       Kameraeinstellungen und eine schwer zu verdauende Gesellschaftskritik.
       
       Wenig überraschend begeisterte das Werk von [1][Regisseur Li Ruijun
       zunächst internationale Cineasten, unter anderem bei seiner Weltpremiere im
       Februar auf der Berlinale]. Doch entgegen allen Prognosen setzte sich
       „Return to Dust“ auch im chinesischen Kino durch, wo sonst Kommerzielles
       und nationalistische Propaganda dominieren: Bis Mitte September spielte der
       Film über 100 Millionen RMB ein, umgerechnet fast 15 Millionen Euro.
       
       Dann wurden die Zensoren nervös: Zunächst zogen sie „Return to Dust“ aus
       dem offiziellen Kinoprogramm. Und als ob das nicht genug wäre, löschten sie
       am Montag den Film aus sämtlichen Streamingdiensten – ohne jegliche
       Begründung. Das ist umso zynischer, als dieser einst selbst von der
       Volkszeitung – immerhin offizielles Organ der Kommunistischen Partei – mit
       einer wohlmeinenden Kritik versehen und als „Hommage an das einfache
       Landleben“ angepriesen wurde.
       
       ## Landarbeit als Vorbereitung
       
       Genau jene dokumentarische Authentizität war es, die einen Nerv bei dem
       Kinopublikum traf: Regisseur Li ließ seinen gesamten Cast ein Jahr lang auf
       einem Bauernhof in der nordwestchinesischen Einöde von Gansu arbeiten, um
       sich an die Dialekte, den wirtschaftlich rückständigen Alltag und das
       harsche Klima zu gewöhnen. Alles andere, so der Filmemacher in einem
       Interview, hätte er als Verrat an jener Gemeinschaft empfunden, in der er
       selbst aufgewachsen ist.
       
       Der 39-Jährige kennt die Armut aus eigener Erfahrung. Sein Heimatdorf war
       bis in die 90er Jahre nicht einmal an das Stromnetz angeschlossen. Mit der
       Elektrizität kam die Liebe zu den Fernsehfilmen, die seinen Wunsch zur
       Flucht von dort nährten.
       
       Wegen seines früh erkannten künstlerischen Talents bekam Li einen
       Ausbildungsplatz bei der nationalen Rundfunkbehörde in Peking, wo er mit
       einer neuen Welt konfrontiert war: Er sog die Filme der französischen
       Nouvelle Vague auf und begeisterte sich für den Neorealismus italienischer
       Regisseure.
       
       Ein Meisterwerk von Vittorio de Sica sollte ihn besonders prägen:
       „Fahrraddiebe“ von 1948, der auf den Straßen Roms gedreht wurde, von
       einfachen Leuten handelt und teils ohne professionelle Schauspieler auskam.
       Diese Arbeitsweise adaptierte Li bei seinen eigenen Filmen, die von den
       Sorgen und Nöten, aber auch Wünschen und Leidenschaften einfacher Leute
       erzählen.
       
       ## Resignation und Empörung
       
       Dass seine künstlerische Stimme nun in seiner Heimat verstummt, macht viele
       Chinesen traurig. „Es ist eine wirkliche Schande“, meint ein User auf der
       Online-Plattform Weibo. Ein anderer schreibt resigniert: „Dass solch ein
       einfühlsamer Film einfach gelöscht werden kann … Es scheint, als ob es hier
       wirklich keine Hoffnung mehr gibt.“ Auch Carlo Chatrian, künstlerischer
       Leiter der Berlinale, zeigte sich auf seinem Twitter-Account „sehr traurig“
       über die Zensurmaßnahme.
       
       In der verqueren Logik der chinesischen Regierung ist diese konsequent.
       Staatschef Xi Jinping geriert sich zwar als Mann des einfachen Volks, der
       sich der „Armutsbekämpfung“ in den Provinzen verschrieben hat. Doch
       zugleich verlangt er, dass sein Volk möglichst wenig von den sozialen
       Problemen zu sehen bekommt: Die Künste sollen laut Xi „positive Energien“
       versprühen und die Leute „harmonisieren“.
       
       In der offiziellen Propaganda gilt die „extreme Armut“ in China dank der
       Regierungsmaßnahmen seit Anfang 2021 als „besiegt“. Daher darf sie nicht in
       Werken wie „Return to Dust“ gezeigt werden. Fabian Kretschmer
       
       27 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Return-to-Dust-im-Berlinale-Wettbewerb/!5831205
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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