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       # taz.de -- Kritik an der Baupolitik des Senats: Hauptsache Wohnungen?
       
       > Ein Bündnis von Bürgerinitiativen und Umweltverbänden fordert den Senat
       > auf, Wohnungen nicht weiter auf Kosten von Grünflächen zu bauen.
       
   IMG Bild: „Bauen, bauen, bauen – und nicht so viel an Bäume denken“, das scheint das Motto der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey und ihres Bausenators Andreas Geisel (beide SPD) zu sein
       
       „Man hat uns regelrecht ausgetrickst“, sagt Nick Meißner von der
       „Bürgerinitiative auf dem lichten Berg“. Er vertritt AnwohnerInnen, die von
       einem Neubauprojekt der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Howoge an der
       Lichtenberger Atzpodienstraße regelrecht überrumpelt wurden: „Mitte Februar
       bekamen wir per Informationsbrief mitgeteilt, dass ein Neubau mit 50
       Wohnungen geplant sei. Sechs Tage später wurden 16 Bäume gefällt, die teils
       40 Jahre alt waren.“
       
       Auf eilig gestellte Anfragen habe die Howoge nicht geantwortet, so Meißner,
       außerdem habe das Bezirksamt die Genehmigung zur Fällung der Bäume erteilt,
       obwohl die Baugenehmigung noch gar nicht vorgelegen habe. Die AnwohnerInnen
       hätten ohne jegliche Möglichkeit zur Beteiligung „eine kleine Oase der Ruhe
       und auch der Natur“ verloren.
       
       Im Fall von Axel Matthies, Mitglied der Bürgerinitiative „Grüne Höfe
       Hellersdorf Süd“, ist es theoretisch noch nicht zu spät – viel Hoffnung
       haben er und seine MitstreiterInnen aber nicht: Zwei große baumbestandene
       Innenflächen der Plattenbau-Blöcke an der Bodo-Uhse-Straße und der
       Lily-Braun-Straße will die ebenfalls landeseigene Gesellschaft Stadt und
       Land mit je 150 Wohnungen bebauen. „Die Bäume sollen im Herbst oder Winter
       geschreddert werden“, sagt Matthies. Die Menschen seien „irritiert und
       verzweifelt“, ihre „grünen Erholungsinseln und sozialen Lebensräume werden
       zerstört“ und eine „erdrückende Enge erzeugt“.
       
       Diese und weitere Fallbeispiele hat am Mittwoch das [1][„Berliner Bündnis
       Nachhaltige Stadtentwicklung“ (BBNS)] vorgestellt, in dem sich rund 30
       Bürgerinitiativen zusammengeschlossen haben. Unterstützt werden sie in
       ihrem Kampf gegen die Rodung und Bebauung grüner Höfe durch die
       Umweltverbände BUND und Nabu sowie die Gruppe Architects for Future. An die
       Öffentlichkeit gehen die Bündnismitglieder jetzt, weil am 1. Oktober das
       saisonale geltende Baumfällverbot endet. Sie befürchten, dass dann für die
       allgegenwärtigen Wohungsbauvorhaben die Kettensägen heißlaufen werden.
       
       ## Die eigene Stimme vermisst
       
       Gerade haben sie einen [2][offenen Brief an Bausenator Andreas Geisel
       (SPD)] geschrieben, den sie dringend zu einem Bau-Moratorium der
       landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften aufrufen. Anstatt vorhandene und
       dringend benötigte Grünflächen in Wohnanlagen zu überbauen, müssten “alle
       anderen Möglichkeiten der Schaffung von günstigem Wohnraum“ ausgeschöpft
       und Neubaupläne auf deren Klimatauglichkeit geprüft werden. Eine weitere
       Forderung an Geisel ist die nach „echter Partizipation“ der BürgerInnen.
       „Wir sind auch Teil des kommunalen Eigentümers“, heißt es im Brief, „wo
       bleibt unsere Stimme?“
       
       Ein Kernproblem aus Sicht des BBNS: Große Teile des Berliner Ostens gelten
       seit der Wiedervereinigung als „unbeplanter Innenbereich“, auf den der §34
       Baugesetzbuch, der sogenannte „Lückenschlussparagraf“ angewandt werden
       kann. Dabei bedarf es keines „qualifizierten Bebauungsplans“, vielmehr
       können die Gesellschaften relativ freihändig entscheiden, ob und wie sie
       vorhandene Freiflächen, oft innerhalb von Großsiedlungen, verdichten. Eine
       Ungerechtigkeit, die das Bündnis möglichst rasch beendet sehen will. Es
       brauche Bebauungspläne, die unter Beteiligung der AnwohnerInnen entwickelt
       würden und bereits versiegelte Flächen in Anspruch nähmen oder aber
       vorhandene Gebäude aufstockten.
       
       Die Antwort des Sprechers der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen
       und Wohnen, Martin Pallgen, auf eine taz-Anfrage zur Problematik liest sich
       inhaltlich gar nicht so anders: Auch er spricht von der Notwendigkeit,
       „höher und dichter“, dabei aber „ökologisch verantwortungsbewusst“ zu
       bauen. Gleichzeitig, so Pallgen, sei „eine Unternutzung von Baugrundstücken
       schon aus ökologischen Gründen ausgeschlossen“, denn sie führe „an anderen
       Stellen zu mehr Flächenverbrauch“. Das kann man auch als Zielkonflikt mit
       dem Bedürfnis der BewohnerInnen nach Freiflächen verstehen.
       
       ## „Es braucht neue Regeln“
       
       Den Aspekt des urbanen Klimaschutzes brachte am Mittwoch BUND-Baumexperte
       Christian Hönig ein: Berlin ruhe sich auf seinem Ruf aus, die grüne
       Metropole Europas zu sein, so Hönig. Dieses Pfund sei aber „schnell
       verspielt“. Wer schnell viele neue Wohnungen bauen wolle – das wohl
       wichtigste Mantra des Giffey-Senats -, der müsse gleichzeitig für
       ausreichend Freiflächen, Entsiegelung und den Schutz vernetzter Lebensräume
       von Tieren und Pflanzen sorgen. „Berlin liegt da weit zurück, es braucht
       ein neues Konzept und neue Regeln“, sagte Hönig: eine reformierte
       Baumschutzverordnung etwa, die Fällungen nicht quasi automatisch
       legitimiert, sobald es um ein Bauvorhaben geht.
       
       Aber wäre es im Sinne des Klimas nicht eigentlich angesagt, über die
       Grenzen des (Bevölkerungs-)Wachstums zu reden, anstatt zu versuchen, das
       „Bauen, Bauen, Bauen“ nachhaltiger zu gestalten? Hönig ist da skeptisch:
       „Es wollen eben viele Menschen nach Berlin ziehen, und es werden
       Baumaßnahmen notwendig sein.“ Das Land Berlin könne den Zuzug auch nicht
       wirklich regulieren, weshalb es darauf ankomme, eine „doppelte
       Innenentwicklung“ voranzutreiben: „Verdichten, wo es sinnvoll ist, und
       gleichzeitig das Stadtgrün aufwerten.“
       
       Freya Beheschti von der Kreuzberger Mietergemeinschaft „Tabor9 – Rettet die
       Gärten“ sieht das etwas anders: „Man sollte den Senat durchaus dazu
       verpflichten, die Diskussion über den weiteren Zuwachs zu führen“ meint
       sie. „Die Zielzahlen beim Wohnungsbau werden ja noch nicht einmal
       diskutiert.“
       
       Beheschtis Initiative ist eine der wenigen im Bündnis, die es geschafft
       hat, ein Verdichtungs-Projekt zu stoppen – wohlgemerkt im Westen der Stadt
       und bei einem privaten Eigentümer. Nachdem durch öffentlichen Druck sogar
       die BVV Friedrichshain-Kreuzberg eine Resolution zum Erhalt des
       langjährigen Mietergartens in der Taborstraße verabschiedete, verzichtete
       die der katholischen Kirche gehörende Aachener Siedlungs- und
       Wohnungsgesellschaft (SWG) auf den Lückenschluss im Hinterhof – nicht ohne
       in einer Pressemitteilung das „durch Individualinteressen bestimmte Klima“
       zu beklagen.
       
       28 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nachhaltigestadtentwicklung.berlin
   DIR [2] https://cdn0.scrvt.com/d6d92d6a2e23793e329174df7eeb1e0f/9526253082641c15/3a87bd63360b/2022-09-27_BBNS_Brief-Klimanotlage-Berlin.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
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