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       # taz.de -- Sextourismus in Marokko: In verschlossenen Hotelzimmern
       
       > In Städten wie Marrakesch gehört Sextourismus für viele Ausländer zum
       > Programm. Dabei kommt es häufig zu sexualisierter Gewalt an Kindern.
       
   IMG Bild: Auf dem zentralen Platz Djemaa el Fna in Marrakesch suchen Männer nach Sexarbeiter*innen
       
       Wer an den marokkanischen Touristenattraktionen in Städten wie Agadir oder
       Tanger genau hinschaut, wird eine verstörende Beobachtung machen: Der
       Sextourismus gehört hier wie dort zum Standardrepertoire für viele
       Touristen. Das ist an sich gut für professionelle Sexarbeiter*innen. Doch
       vor allem aus Europa fahren Männer nach Nordafrika, um sich an die
       verletzbarste aller Gruppen zu vergehen: Minderjährige.
       
       Besonders in der marokkanischen Tourismushauptstadt Marrakesch hat sich ein
       Markt etabliert, der die Flugzeuge der Billigfluggesellschaften aus Paris,
       Mailand oder Berlin mit Tätern füllt. Am zentralen Platz, dem Djemaa el
       Fna, oder in der Neustadt Gueliz suchen Männer nach billigem Sex und vor
       allem Sexarbeiter*innen, die ihnen jeden Wunsch erfüllen.
       
       In der Neustadt ist es eine Filiale der US-amerikanischen Kaffeehauskette
       Starbucks, die sich als Hotspot für den Sextourismus etabliert hat.
       Französische, italienische oder deutsche Touristen in kurzen Hosen,
       Sandalen – und manchmal mit dem typischen Sonnenbrand im Gesicht – nehmen
       Platz und müssen nicht lange warten, bis sie von Frauen oder Queers
       angesprochen werden. Man wechselt Telefonnummern aus, die Verhandlungen und
       Verabredungen finden meist über Chats statt. Eine Nacht kostet 30 bis 80
       Euro, je nachdem wie gut die Männer verhandeln.
       
       Mit der [1][Coronakrise] und dem ausbleibenden Tourismus sind die Preise
       in den vergangenen Jahren eher gefallen. Zwar ist es offiziell verboten,
       dass marokkanische Staatsbürger*innen mit Ausländern in Hotels aufs
       Zimmer gehen, die meisten Herbergen drücken aber beide Augen zu, wenn weiße
       Touristen mit Begleitung in der Lobby erscheinen.
       
       An den Rezeptionen vieler Hotels in Marokko kleben häufig Plakate, auf
       denen informiert wird, dass fremde Minderjährige auf den Zimmern nicht
       geduldet und Verstöße geahndet werden. Einige der Männer im Starbucks in
       Gueliz und anderen öffentlichen Prostitutionsbörsen schauen dennoch
       gezielt nach Mädchen und Jungs, die deutlich unter 18 Jahre alt sind und
       manchmal selbst aktiv nach Kundschaft suchen. Laut
       Menschenrechtsorganisationen wie „Touche pas à mon enfant“ (Fass mein Kind
       nicht an) handelt es sich hierbei oft um Straßenkinder, die aus Dörfern in
       die Stadt gekommen sind, um ihre Familien finanziell zu unterstützen.
       
       Bei der pädosexuellen Ausbeutung der Jugendlichen kulminieren alle Probleme
       Marokkos: das Stadt-Land-Gefälle, fehlende Aufstiegschancen durch Bildung,
       die Jugendarbeitslosigkeit und ein Staat, der gewähren lässt. Die
       Prostitutionsbörsen sind meist nur einen Steinwurf von Polizeiwachen
       entfernt. Alle wissen, was passiert, niemand greift ein.
       
       Sozialarbeiter*innen und Kinderschutzvereine beschreiben, dass die
       Zahl der europäischen Sextouristen in Nordafrika schon immer hoch war, vor
       allem in Marokko und in Ägypten. Doch habe sich das Problem im Maghreb nach
       dem [2][Jahrhundert-Tsunami 2004] sprunghaft vergrößert. Damals starben
       mehr als 230.000 Menschen Tausende Kilometer entfernt in südostasiatischen
       Ländern. In Indonesien und Thailand lag danach der Tourismus – wie auch der
       dort florierende Sextourismus – brach.
       
       Viele europäische Sextouristen orientierten sich gen Nordafrika und kamen
       seitdem immer wieder zurück: der Maghreb ist näher und somit günstiger,
       weiße Touristen genießen quasi Narrenfreiheit, außerdem bekommt Mann in
       Agadir oder Scharm al-Scheich alles geboten. Und mit alles sind auch
       ausbeuterische Praktiken bis hin zu Kindesmissbrauch gemeint.
       
       ## „Ich habe am Anfang nicht verstanden, was passiert“
       
       Soufiane Hennani ist marokkanischer Autor und Aktivist. Er beschäftigt sich
       mit den Auswirkungen des Sextourismus auf sein Land. „Mittlerweile ist es
       sogar in kleineren Städten im öffentlichen Raum sichtbar, dass es immer
       mehr Touristen gibt, die Sex kaufen wollen. Viele Zuhälter haben sich auf
       die Nachfrage der Ausländer spezialisiert und bieten alles an: Frauen,
       Queers und leider auch Kinder“, sagt Hennani. Er berichtet von einigen
       Fällen, bei denen die Polizei eingeschritten sei. Die Touristen würden
       dabei selten belangt, die Sexarbeiter*innen kämen dagegen in
       Gewahrsam. Deswegen seien Korruptionszahlungen an Polizisten weit
       verbreitet, damit der Markt weiter funktionieren könne.
       
       „Die Betroffenen werden im Stich gelassen. In Marokko reden wir so
       überhaupt nicht über die Probleme, die der Sextourismus mit sich bringt.
       Über den Schutz der Kinder vor den Tätertouristen aus dem Ausland schon mal
       gar nicht“, sagt Henanni. Dabei bedrohe diese Ausbeutung das Leben vieler
       Jugendlicher im Land.
       
       In einer [3][Reportage des Fernsehsenders France24] spricht einer der
       jungen Prostituierten von Marrakesch anonymisiert über sein Schicksal. Er
       nennt sich Samir und erzählt, dass er in die Szene gerutscht sei, weil ihn
       ein europäischer Tourist in einem Café Geld angeboten habe. Als
       Jugendlicher aus armen Verhältnissen sei er dem Ausländer naiv gefolgt.
       „Ich habe am Anfang überhaupt nicht verstanden, was passiert“, sagt Samir.
       Er habe damals nur funktioniert, er habe nur das Geld im Blick gehabt.
       
       Seine Eltern hätten nicht hinterfragt, wie er plötzlich den Unterhalt für
       die Familie verdient habe. „Die Europäer sind reich, wir haben nichts.“
       Jetzt fühle er sich nur noch leer. Samir ist mittlerweile erwachsen, der
       Missbrauch wird ihn aber lebenslang verfolgen: psychologisch und
       körperlich. Denn er habe sich beim Sex mit einem Europäer mit HIV
       angesteckt, sagt er.
       
       In einem Büro einer Aids-Hilfsorganisation in Casablanca trifft man viele
       Samirs. Sie alle wollen anonym bleiben, eigentlich ist das ein geschützter
       Raum. Journalist*innen haben normalerweise keinen Zutritt. Am Empfang
       begrüßt ein netter Mitarbeiter, erklärt, dass die Selbsthilfegruppe der
       HIV-positiven Sexarbeiter*innen bald Feierabend mache. HIV/Aids ist an
       sich kein absolutes Tabuthema in Marokko, findet doch jedes Jahr zum
       Beispiel eine riesige Benefizgala für HIV-positive Menschen im
       Staatsfernsehen statt. Der Sextourismus und die Gewalt gegen Jugendliche
       ist dagegen kein Thema, das öffentlich diskutiert wird.
       
       Im Arabischen – eine Sprache, die für jede Sache meist mehrere Begriffe
       kennt – gibt es für das Wort Pädophilie keine direkte Übersetzung.
       Offizielle Statistiken oder belastbare Zahlen gibt es für das Problem mit
       den gewalttätigen Ausländern nicht. Und so winken alle
       Sexarbeiter*innen ab. Zum Thema HIV/Aids würden sie durchaus mit dem
       Reporter sprechen, über ihre Arbeit und Ausbeutung nicht. Unter den zehn
       Betroffenen an diesem Tag sind viele, die erst vor Kurzem volljährig
       geworden sind.
       
       ## Reiche Golf-Araber nicht bei Starbucks
       
       Ab und zu tauchen Fälle in der marokkanischen Boulevardpresse auf, die das
       ganze Land aufwühlen. Ein Imam, der sechs Schutzbefohlene in einer Moschee
       bei Tanger missbrauchte, machte im Jahr 2020 zum Beispiel Schlagzeilen.
       
       Doch bisher sind es vor allem Ausländer, die pädokriminell auffallen: Wie
       der berühmte Fall eines Spaniers zeigt, der vor rund zehn Jahren Tausende
       Marokkaner*innen auf die Straße trieb. Er hatte mehrere Kinder in der
       Küstenstadt Kénitra am Atlantik sexuell missbraucht und seine Straftaten
       dabei gefilmt. Im Jahr 2013 wurde er zu dreißig Jahren Haft durch ein
       lokales Gericht verurteilt.
       
       Kurz darauf wurde er vom marokkanischen König Mohammed VI. auf das
       persönliche Bitten des damaligen spanischen Königs Juan Carlos begnadigt.
       Der Täter durfte nach Spanien ausreisen. Dank einer breiten
       Social-Media-Kampagne fanden kurz darauf in ganz Marokko Proteste gegen die
       Begnadigung statt.
       
       Der König Marokkos, ein absoluter und unfehlbarer Monarch, beteuerte wenige
       Stunden nach den Protesten, dass er angeblich nichts von den Straftaten des
       Spaniers gewusst habe. Der König entschuldigte sich bei den Familien der
       Angehörigen und revidierte seine Begnadigung. Der spanische
       Sexualstraftäter wurde daraufhin in der spanischen Stadt Murcia aufgrund
       eines internationalen Haftbefehls der marokkanischen Behörden erneut
       festgenommen und sitzt seitdem mutmaßlich in einem spanischen Gefängnis.
       
       Eine andere Tätergruppe erscheint aber nie wirklich im öffentlichen Raum
       auf ihrer Suche nach der ausbeuterischen Befriedigung: Sextouristen aus dem
       Golf. Meist sind es wohlhabende Männer aus Saudi-Arabien, Katar oder den
       Vereinigten Arabischen Emiraten, die in Ägypten oder Marokko ihrer Fantasie
       grenzenlosen Lauf lassen. Dieser Missbrauch findet meist in exklusiven
       Anwesen, hinter hohen Mauern statt. Reiche Golf-Araber begeben sich nicht
       zu Starbucks, um ihre Opfer zu finden. Sie bestellen ihre Opfer über
       Mittelsmänner in ihre luxuriösen Ferienresidenzen, wie
       Menschenrechtsorganisationen in ihren Berichten festhalten.
       
       Laut dem „Trafficking in Persons Report“ vom Jahr 2014 begnügen sich die
       entsprechenden organisierten Banden aber nicht nur damit, dass ihre Kunden
       anreisen. Auch ein Export von Kinderkörpern wird auf Wunsch organisiert.
       Mädchen ab sechs Jahren werden in den Nahen Osten, aber auch nach Europa
       verschleppt. In Katalogen können die reichen Männer im Globalen Norden und
       am Arabischen Golf aussuchen, wen sie sich „liefern“ lassen.
       
       Laut einem [4][Report der Unitersität Yale] sind in den vergangenen Jahren
       immer mehr minderjährige afrikanische Flüchtende in den Markt integriert
       worden. Auf ihren Wegen von ihren Herkunftsländern Kamerun, Elfenbeinküste
       oder Senegal Richtung Europa stecken sie oft jahrelang in Marokko oder
       Ägypten aufgrund der unüberwindbaren EU-Außengrenzen fest. Die
       sexualisierte Gewalt sucht sich die Schwächsten als Opfer aus.
       
       2 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Corona-Impfempfehlung-der-Stiko/!5879627
   DIR [2] /Elfter-Jahrestag-der-Tsunami-Katastrophe/!5264042
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=nR8pXCNnIww
   DIR [4] https://globalist.yale.edu/in-the-magazine/features/bodies-for-sale-prostitution-in-morocco/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mohamed Amjahid
       
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