URI: 
       # taz.de -- Bremer Menschenrechtler Docke hört auf: Der ruhige Staranwalt
       
       > Bernhard Docke ist ein Kämpfer für Gerechtigkeit. Er hat nicht nur Murat
       > Kurnaz aus Guantánamo rausgeholt. Nach 40 Jahren geht er in den
       > Ruhestand.
       
   IMG Bild: Anwalt aus Passion: Bernhard Docke
       
       Bremen taz | In der Bremer Rechtsanwaltskanzlei Hannover & Partner deutet
       Mitte September nichts darauf hin, dass eine Ära zu Ende geht. Nur wer das
       Büro von Bernhard Docke kennt, bemerkt das fehlende Gemälde des
       Jazztrompeters, das einst eine Freundin für ihn gemalt hat, und die
       Aktenstapel vor dem Regal. „Die muss ich alle noch abarbeiten“, sagt Docke.
       
       Ende des Monats wird Bremens bekanntester praktizierender Strafverteidiger
       hier das letzte Mal seinen Mantel von der Garderobe nehmen, seinen Rucksack
       aufsetzen und unten am Wall sein Rad besteigen. „Ich finde es wichtig
       aufzuhören, bevor man mental und körperlich abbaut“, sagt er. „Außerdem
       gibt es jede Menge schöne Dinge jenseits des Berufs, für die ich jetzt mehr
       Zeit habe.“
       
       Der drahtige 67-Jährige zählt diverse Sportarten, Theater und Musik,
       Freunde und Familie sowie die Leidenschaft für Werder Bremen auf, bevor er
       sagt: „Jetzt aufzuhören, ist aber auch ein bisschen ambivalent, weil ich
       mich in diesem Beruf aufgehoben gefühlt habe. Das ist zu einer Passion
       geworden.“ Eine Passion, die 1983, am Tag des Kohl-Wahlsieges, mit einer
       geteilten Robe für drei junge Uni-Abgänger begann und ihn bis zum Supreme
       Court der USA und auf den Roten Teppich der Berlinale führte.
       
       Erste Begegnungen mit der Justiz hatte er allerdings bei der Bundeswehr.
       „Einige Mitschüler und ich wollten nicht verweigern, da wir die armen
       Wehrpflichtigen nicht hilflos der Indoktrination durch Militaristen
       ausgeliefert sehen wollten“, sagte Docke in seiner Dankesrede für den
       Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon 2016.
       
       ## Bei der Bundeswehr angeeckt
       
       Im linken Bremer Schülermilieu jener Zeit sozialisiert, konnte er beim Bund
       den Mund nicht halten. Bei den folgenden juristischen Auseinandersetzungen
       vertrat ihn [1][Heinrich Hannover], Freund der Eltern, legendärer linker
       Anwalt und einer, der „von seiner ganzen Art komplett unkonventionell“ war
       und „sich mit staatlichen Instanzen angelegt“ hat, so Docke.
       
       Die Bekanntschaft mit Hannover war eine der Erfahrungen, die für Docke in
       das Jura-Studium an der Uni Bremen mündeten. An dessen Ende machte er ein
       Praktikum bei der UNO in New York und damit in einem Land, über das er bis
       heute in einer Mischung aus „Faszination und Schauder“ spricht. Es gehört
       zu den weniger bekannten Seiten seines beruflichen Wirkens, dass er in den
       USA nicht nur um die [2][Freilassung des Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz]
       kämpfte, sondern auch an drei Mordverfahren mitwirkte und an deutschen
       Universitäten zahlreiche Vorlesungen über das US-Strafrecht gehalten hat.
       
       Am liebsten wäre er bei der UNO geblieben, doch der damalige Präsident
       Ronald Reagan hielt diese für eine terroristische Vereinigung und strich
       die Mittel für das Projekt, in dem Docke mitarbeitete. Die Kanzleigründung
       mit den Freunden Armin von Döllen und Thomas Piegeler war eher eine
       Verlegenheitslösung. Neben Verfahren mit politischen Hintergründen wie die
       erfolgreiche Verteidigung von Demonstranten, die sich aus Protest gegen
       atomare Aufrüstung vor die US-Kaserne in Garlstedt gesetzt hatten,
       spezialisierten sich die drei auf die Vertretung von Kreditnehmern, die
       aufgrund sittenwidriger Verträge im Schuldturm gelandet waren.
       
       Die Akribie und Eindringlichkeit, mit der er wenige Tage vor dem Ruhestand
       von einem anderen frühen Fall erzählt, verrät viel davon, wie sich sein
       Gerechtigkeitssinn bis heute an staatlicher Willkür entzündet. 1950 wurden
       der ehemalige, aus der Ukraine nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter
       Oleksa Szwajka und seine Frau Wilma, eine Bremerin, von der Hansestadt für
       staatenlos erklärt. Das entsprach dem damals noch geltenden wilhelminischen
       Staatsangehörigkeitsrecht, aber nicht dem kurz zuvor in Kraft getretenen
       Grundgesetz.
       
       Mehr als dreißig Jahre später, nachdem Wilma Szwajka bei vielen Anwälten
       abgeblitzt war, kämpfte Docke das Recht des Ehepaares auf die deutsche
       Staatsbürgerschaft durch. „Der Fall hat mich lange beschäftigt und
       aufgeregt, weil am Unrecht dieser Familie gegenüber deutlich wurde, dass
       der Krieg und die Zeit des Faschismus Auswirkungen bis in die Jetztzeit
       hatten“, sagt Docke.
       
       Nach der Fusion mit dem Büro „Hannover & Partner“ im Jahr 1988
       spezialisierte er sich hauptsächlich auf das Strafrecht. 1994 übernahm er
       beispielsweise den Fall zweier ukrainischer Gebrauchtwagenhändler, denen
       zwei Bremer Polizisten 39.000 Mark gestohlen hatten. Niemand glaubte den
       Opfern, erst zehn Jahre später verschaffte Docke ihnen das Geld zurück.
       „Aufgeben war keine Option“, sagt Docke in einem TV-Beitrag über diesen
       Fall, aber der Satz kann als Motto über seiner ganzen Laufbahn stehen.
       
       Besonders über seinem berühmtesten Fall: Fünf Jahre wurde der Bremer Murat
       Kurnaz in Guantánamo interniert und gefoltert, ohne Anklage und Verfahren.
       Docke und Kurnaz’ Mutter Rabiye erreichten schließlich nicht nur seine
       Freilassung, sondern konnten nachweisen, dass die US-Behörden nach kurzer
       Zeit nicht mehr an seine Schuld geglaubt hatten und ihn bereits 2002 nach
       Deutschland abschieben wollten. Die Bundesregierung lehnte dies ab, obwohl
       selbst der BND ihn für unschuldig hielt. „Das war eine eiskalte, inhumane
       Entscheidung. Verantwortlich dafür war der heutige Bundespräsident“, sagte
       Docke in [3][einem taz-Interview] zur Premiere des [4][Kino-Films „Rabiye
       Kurnaz gegen George W. Bush“] im Februar.
       
       „Es war für uns beide ein Stück weit späte Genugtuung, weil wir damals
       komplett allein waren“, sagt er heute über den mittlerweile preisgekrönten
       Film von Andreas Dresen. „Alle sind uns mehr oder weniger aus dem Weg
       gegangen, weil nach 9/11 die Angst verbreitet war, sich vielleicht für
       etwas Falsches und Gefährliches einzusetzen. Am Ende meiner beruflichen
       Tätigkeit so ein filmisches Dokument über meinen wahrscheinlich größten
       Fall zu bekommen, ist ein Sahnehäubchen obendrauf.“
       
       Nicht aufgeben, aber abgeben muss er jetzt seinen letzten großen Fall, in
       dem er Angehörige der Opfer und Überlebende des [5][Staudammunfalls im
       brasilianischem Brumadinho], bei dem 2019 mehr als 270 Menschen starben, im
       Ermittlungsverfahren gegen einen Manager des TÜV Süd vertrat. „Aber der
       Fall ist in guten Händen,“ sagt Docke. Und das ist ihm verdammt wichtig.
       
       30 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Das-NS-Erbe-im-Strafrecht/!5068925
   DIR [2] /US-Abgeordnete-reden-mit-Ex-Haeftling-Kurnaz/!5181810
   DIR [3] /Anwalt-Docke-ueber-Murat-Kurnaz/!5831101
   DIR [4] /Dresen-Film-ueber-den-Fall-Kurnaz/!5831201
   DIR [5] /Prozess-gegen-TUeV-Sued/!5800504
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Lorenzen
       
       ## TAGS
       
   DIR Murat Kurnaz
   DIR Guantanamo
   DIR Schwerpunkt 9/11
   DIR Supreme Court
   DIR Bremen
   DIR Politische Justiz
   DIR Anwalt
   DIR Andreas Dresen
   DIR Staatenlosigkeit
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Murat Kurnaz
   DIR Frank-Walter Steinmeier
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ex-Kollege über Anwalt Heinrich Hannover: „Er war lebenslustig, witzig, unangepasst, antiautoritär“
       
       Der Anwalt und Kinderbuchautor Heinrich Hannover wäre Ende Oktober 100
       Jahre alt geworden. Ex-Kollege Bernhard Docke erinnert an ihn mit einer
       Lesung.
       
   DIR Zum Tod von Heinrich Hannover: Ein Mann für die Gerechtigkeit
       
       Heinrich Hannover ist am vergangenen Samstag gestorben. Als linker Anwalt
       war er an Aufsehen erregenden Prozessen beteiligt.
       
   DIR Andreas Dresen als Laienrichter: Bis auf Weiteres auch Richter
       
       Der Filmregisseur Andreas Dresen engagiert sich ehrenamtlich als
       Verfassungsrichter in Brandenburg. Das Amt geht nun nach zehn Jahren in
       Verlängerung.
       
   DIR Vorwürfe gegen Ausländerbehörde: Ein Leben ohne Ausweis
       
       Keywan Khoudor wollte Urlaub machen, doch die Reise endete am Flughafen.
       Ägypten erkannte die Dokumente der Ausländerbehörde nicht an.
       
   DIR Dresen-Film über den Fall Kurnaz: Laut und verletzlich
       
       Der Fall Murat Kurnaz inspirierte Andreas Dresen zu seiner neuen
       Tragikomödie. „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ läuft im
       Berlinale-Wettbewerb.
       
   DIR Anwalt Docke über Murat Kurnaz: „Dieser Fall hat mich verändert“
       
       Bernhard Docke kämpfte für die Freilassung von Kurnaz aus Guantánamo. Das
       wurde verfilmt. Die Premiere ist am Tag vor der Wahl Steinmeiers –
       ausgerechnet.
       
   DIR Ex-Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz: „Steinmeier soll Makel bereinigen“
       
       Kurnaz saß unschuldig in Guantánamo – auf Betreiben Steinmeiers. Bevor der
       Außenminister ins Schloss Bellevue einzieht, will er eine Entschuldigung.