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       # taz.de -- Jüdisches Neujahrsfest in Ukraine: Wider Scholem wet seyn oif der Welt
       
       > Scholem, Frieden, ist der Wunsch der Jüdinnen und Juden von Lwiw zu Rosch
       > Haschana. Aber wie können sie feiern, wenn Söhne und Töchter im Krieg
       > sind?
       
   IMG Bild: Lwiw liegt zwar nicht an der Front, aber der Krieg ist auch hier allgegenwärtig
       
       Am Schabbat sollen Jüdinnen und Juden nicht Auto fahren. Aber an diesem
       Samstag, es ist der 24. September, parkt vor der jüdischen Kultur- und
       Wohlfahrtsstelle in Lwiw ein Kleinbus. Im Gänsemarsch schleppen Menschen
       Säcke mit bunten Kostümen, dazu einen Synthesizer, den sie auf die Rückbank
       packen. 17 Personen finden Platz. Jung und nicht mehr so jung, dick und
       dünn, Männer und Frauen. Es sind aber mehr Frauen. Hinter dem Fahrer sitzt
       Lena aus Luhansk, rotbraune Kurzhaarfrisur, rote Lippen. Sie leitet den
       Chor „Scheyne Meydelach“, zu Deutsch: schöne Mädchen und hat gerade eine
       Lungenentzündung überstanden. Tatjana neben ihr ist 82, sieht aber zwanzig
       Jahre jünger aus. Sie bringt einen Witz nach dem anderen. Ihre Tochter
       kämpft als Freiwillige an der Front. Ein Brummen, der Motor springt an.
       „Juhu!“ schreit jemand, „wir fahren auf Tournee“.
       
       Am Sonntag Abend beginnt Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest. Für die
       kleine jüdische Gemeinde der westukrainischen Stadt ist es das erste
       Neujahr im Krieg. Die zehn Tage zwischen Rosch Haschana und dem
       Versöhnungstag Jom Kippur sind die wichtigsten im jüdischen Kalender. Sie
       sind eine Zeit der Selbsterkenntnis, der Prüfung und Hoffnung.
       
       Zu den vielen Feierlichkeiten kommen vor allem Alteingesessene, aber auch
       Binnenflüchtlinge, die seit 2014 hier leben und solche, die erst kürzlich
       geflohen sind, ihre Wege werden sich vielleicht nie mehr kreuzen. Aber sie
       alle gehören jetzt auf eine merkwürdige Weise dazu. Sie sind Teil eines
       großen jüdischen Flüchtlingskaleidoskops, das sich in den letzten Monaten
       mit Geldern von großen jüdischen Organisationen aus dem Ausland gegenseitig
       unterstützt.
       
       Vor dem Holocaust galt Lwiw als kulturelle, religiöse und zionistische
       Ideenwerkstatt jüdischen Lebens – ein Drittel seiner Einwohner war jüdisch.
       Von 100.000 überlebten etwa 3000. In den neunziger Jahren emigrierten viele
       nach Israel, Deutschland und die USA. Andere waren Mischehen eingegangen
       und galten gemäß der Halacha, der rabbinischen Gesetzgebung, „nur“ als
       Vaterjuden. Vor einigen Jahren schloss die letzte jüdische Schule in der
       Stadt. Durch den Krieg wächst die Gemeinde wieder täglich.
       
       Jemand im Bus spielt Opernmusik von Verdi auf seinem Handy ab, „Rigoletto“.
       Sie fahren über eine Schnellstraße hinaus. Als der Bus abbiegt, fragt eine
       Frau den Mann neben sich: „Serhij, bist du im wehrfähigen Alter?“ In den
       letzten Wochen, erzählt man, verteile das Militär Einberufungsbescheide
       gleich an Checkpoints der Stadt.
       
       ## Sie krümmen sich vor Lachen
       
       Im Bus redet alles durcheinander. Nicht alle lieben Verdi. „Was ist das für
       ein Rumgeheule, tu Kopfhörer rein, Mischa!“ – „Habt ihr eigentlich
       „Unorthodox“ gesehen?“ – „In Deutschland lernen unsere Leute kein Deutsch,
       wozu auch, sie kriegen auch so 400 Euro jeden Monat!“ – „Vergesst nicht,
       dass die Eröffnungsrede heute auf Ukrainisch sein soll und nicht auf
       Russisch!“ – „Lasst uns lieber über Sex reden, dafür brauchen wir keine
       Sprache!“ Sie krümmen sich vor Lachen.
       
       Die Tournee ist ein Tagesausflug in den Kurort Truskawez südwestlich von
       Lwiw. Seit Anfang März leben dort in einem sowjetischen Betonklotz jüdische
       Geflüchtete. Als der Krieg begann, mieteten Unternehmen ganze Sanatorien,
       um ihre Mitarbeiter aus dem Osten zu evakuieren. So auch das Joint
       Distribution Committe (JDC), die älteste jüdische Hilfsorganisation der
       Welt. Sie quartierte dort Familien und alte und kranke Menschen ein.
       Derzeit sind es 119, die im Hotel Vesna, auf Deutsch Frühling,
       untergebracht sind. Truskawez mit seinen 30.000 Einwohnern soll für alle
       nur eine Zwischenstation sein, bis sie wieder in ihre Heimat zurück können
       oder eine Wohnung in Lwiw finden.
       
       Dank seiner Heilquellen war Truskawez in der Sowjetunion bekannt, so wie
       Baden-Baden in Deutschland oder Karlsbad in Tschechien. Auch jetzt leben im
       Hotel neben Geflüchteten Heilwasser-Touristen. Wer kein Heilwasser trinkt,
       isst dünnen Borschtsch und fades Kantinenhähnchen. Die „Scheyne Meydelach“
       sind das Ensemble der Kultur- und Wohlfahrtsstelle Hessed Arieh aus Lwiw.
       Bald beginnt in der großen Halle mit den roten Plüschsitzen das
       Neujahrskonzert.
       
       Um dorthin zu gelangen, müssten Lidia Leonidowna und ihr Sohn Serhij die
       Treppen ins Untergeschoss hinunter laufen können. Einen Aufzug gibt es
       nicht. Lidia Leonidowna ist 85 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Ihr Sohn
       Serhij ist 54 und hat Kinderlähmung. Zusammen haben Mutter und Sohn
       Mariupol überlebt. Seit wenigen Wochen leben sie im Hotel. Sie werden
       verpassen, wie die Tänzerinnen im Military-Look auf die Bühne stürmen und
       Hevenu Shalom Alejchem singen.
       
       Ihr Zimmer 704 im siebten Stock ist schlicht eingerichtet. Zwei
       Einzelbetten, zwei knallrote Nachttischlampen, ein Fernseher und ein
       Kühlschrank. Die beiden verlassen es außer zum Essen nur dann, wenn täglich
       die Pflegerin für zwei Stunden kommt und sie zusammen vor dem Hoteleingang
       am Rollator in kleinen Schritten laufen üben.
       
       Auf die Frage, wie es ihr geht, antwortet Lidia Leonidowna: „Wir warten.“
       Sie sitzt nah am Fenster, hinter ihr stapeln sich Windelpackungen, neben
       ihr auf dem Fensterbrett liegt eine Packung Zigaretten. Serhij kauert auf
       dem Bett und starrt auf sein Handy. Er sagt nichts. nur einmal hebt er
       seinen Kopf und sagt grimmig: „Ich will zurück nach Mariupol. Dort bin ich
       geboren.“ Die beiden warten auf ihre Ausreisedokumente nach Israel. Die
       Juden, hofft Lidia Leonidowna, lassen die eigenen Leute nicht im Stich.
       Dass sie jüdisch sind, hat ihnen vielleicht sogar das Leben gerettet. Wenn
       sie stirbt, soll sich in Israel jemand um Serhij kümmern. Aber weil gerade
       jüdische Feiertage sind, verzögert sich im Konsulat alles.
       
       Lidia Leonidownas Stimme ist tief und rauchig. Wenn sie von den letzten
       Monaten spricht, weint sie nicht. „Ich bin eher der stabile Typ“. Sie
       wollte nie weg aus Mariupol. In den vierziger Jahren arbeitete ihr Vater
       als Ingenieur im Azow-Stahlwerk. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Familie von
       der Sowjetregierung in den Ural evakuiert, der Vater arbeitete dort in der
       Waffenproduktion. Später studierte Lidia Leonidowna in Sibirien und ging
       nach Mariupol zurück.
       
       ## Der Unbekannte sagte, er komme aus der Synagoge
       
       Als die Russen Anfang März begannen, in Mariupol Wohnviertel zu beschießen,
       brach ihr Balkon weg, die Fenster stürzten ein, Gemälde fielen von den
       Wänden. Lidia Leonidowna lag im Bett und zitterte. Egal wie viele Decken
       sie über sich breitete, ihre Gliedmaßen schmerzten von der Kälte. Sie
       erlaubte Serhij nicht, das Haus zu verlassen. Im April klopfte ein
       unbekannter junger Mann an ihre Tür. Er sagte, er komme aus der Synagoge
       und helfe, behinderte Menschen zu evakuieren. Sie lehnte ab. Wo sollten sie
       in ihrem Zustand hin, sie im Rollstuhl und Serhij mit seiner Behinderung?
       
       Es gab keinen Strom, kein Essen und kein Wasser. Aber die Tochter von Lidia
       Leonidownas Cousine kochte alle paar Tage am Feuer vor ihrem Haus Suppe
       oder Brei. Ihr Mann brachte es ihnen, manchmal auch ein oder zwei Liter
       Wasser. Es reichte, um die Medikamente einzunehmen.
       
       Heute träumt Lidia Leonidowna immer wieder davon, wie er ihnen das Wasser
       bringt. „Tante Lilia, auf dem Weg haben sie wieder geschossen. Ich lag mit
       dem Gesicht zum Boden auf der Straße und klammerte mich an die
       Wasserflaschen.“ Jedes Mal sagte er: „Heute hat es geklappt. Nächstes Mal
       vielleicht nicht.“
       
       Erst als ihnen die Medikamente gegen Serhijs epileptische Anfälle
       ausgingen, entschied sie sich zur Flucht. Der Fremde aus der Synagoge trug
       Lidia Leonidowna zum Minibus und legte sie auf den Boden. Als sie die Stadt
       verließen, schossen die Russen auf sie, Mariupol war zu Teilen schon
       besetzt. Am Checkpoint wollte man sie nicht herauslassen. Sie nahmen den
       Umweg über die Dörfer.
       
       Um drei Uhr am Nachmittag kamen sie in der Küstenstadt Berdjansk an. Sie
       hatten sich über zwei Monate nicht gewaschen und nichts Warmes gegessen.
       Als jemand Lidia Leonidowna einen Teller mit heißem Borschtsch reichte,
       zitterten ihr die Hände. Am gleichen Tag kam eine Frau und duschte sie mit
       warmem Wasser. Es war der 3. Mai. Sie wird diesen Tag nie vergessen.
       
       Im Keller sitzen ein paar Dutzend Pensionäre und Familien mit Kindern auf
       roten Plüschsesseln. Das Ensemble hat das hebräische Neujahrslied Bashana
       Habaa auf Jiddisch umgedichtet: Ir wet seyn / Ir wet seyn / Wos ba naier
       wird geschehn / Wider Scholem wet seyn oif der welt! – Ihr werden sehen,
       was im neuen Jahr wird geschehen, wieder Frieden wird sein auf der Welt! Zu
       Lidia Leonidowna und Serhii wird jemand später eine kleine Plastiktüte
       hochschicken, darin Challah, der Hefezopf aus dem jüdischen Brauchtum, und
       ein Apfel mit Honig. Süß soll das neue Jahr werden.
       
       Bis zum Krieg wurde die Zahl von Jüdinnen und Juden in Lwiw auf über 1000
       geschätzt. Doch viele sind geflohen, andere wiederum aus ukrainischen
       Städten hinzugekommen. Menschen in Bewegung kann man nicht zuverlässig
       zählen. Lwiw und die Orte in der Umgebung sind für viele eine
       Zwischenstation, die Mietpreise in der Stadt nicht bezahlbar.
       
       Der Rabbiner Mendel Gottlib sagt, er spüre „jüdische Seelen“ in der Stadt
       auf, dann zwinkert er. Er hat besonders Menschen im Blick, die zwar jüdisch
       sind, aber die Verbindung zum Judentum oder zur Gemeinde längst verloren
       haben. Zwei Tage vor Rosch Haschana empfängt er in seinem winzigen Büro im
       Gemeindezentrum Chabad. Ständig kommen Menschen, um Medikamente oder
       Lebensmittel abzuholen. Es sind vor allem jüdische Familien, die kommen,
       aber nicht nur. Wenn jemand das Gebäude betritt, unterbricht Mendel das
       Gespräch, stellt sich an die Tür und begrüßt sie mit „Schalom Schalom!“
       Dann lädt er sie zu einem kurzen privaten Gespräch unter vier Augen.
       
       Ein paar Tage später werden einige von ihnen wiederkommen, um zusammen
       Rosch Haschana zu feiern und das traditionelle Schofarblasen zu hören, das
       ihre Seelen vor Gott aufrütteln soll. Die Menschen mögen Mendel. Er ist
       jung, er ist nahbar, er hört ihnen zu, den Kindern schenkt er Spielzeug.
       Wenn Rabbiner Mendel Gottlib spricht, baut er auf Jiddisch lustige Ausrufe
       wie „A jiddische Kop“ ein, um jemandem zu seinem Gedanken zu gratulieren.
       Seine Muttersprache ist Hebräisch, aber er spricht Russisch und lernt
       Ukrainisch. Das Rrrr kann er nicht rollen.
       
       Der Regen prasselt laut gegen die Fensterscheiben, seit Tagen schüttet es
       in Lwiw wie aus Kübeln. Sein Handy klingelt.
       
       „Wissen Sie, was Mincha ist?“ – „Ich bin säkular, aber ich weiß, was das
       Nachmittagsgebet ist.“ – „Nur in Israel gibt es einen Unterschied zwischen
       säkular und orthodox. Hier sind wir alle eins, wir sind Juden!“
       
       Mendel Gottlib entschuldigt sich und verlässt zum Beten das Büro. Schräg
       vor dem Büro ist auf einem Stuhl eine riesige Aufnahme von Rabbiner
       Menachem Mendel Schneerson abgestellt, noch in Folie verpackt. Er war der
       Rebbe der chassidischen ultraorthodoxen Chabad-Bewegung, zu der Mendels
       Familie gehört und den er verehrt.
       
       Das Gemeindezentrum hat erst vor zwei Wochen eröffnet. Mendel und seine
       Frau Maschi kamen im August letzten Jahres aus Israel als „Schlichim“,
       sogenannte Gesandte, nach Lwiw, um ihr Leben der Gemeindearbeit zu widmen.
       Im Dezember kam Musja, ihr Baby, auf die Welt. Kurz darauf begann der
       Krieg. Jeden Tag, von morgens bis abends, riefen ihn Hunderte verzweifelte
       Menschen an.
       
       Für Mendel Gottlib was es das erste Mal im Leben, dass er am Schabbat ans
       Telefon ging. „Pikuach Nefesh“ hieß die Erlaubnis des Oberrabbiners auf
       Hebräisch, zu Deutsch: „Rettung aus Lebensgefahr“. Mendel selbst hat Angst
       um seine Eltern. Sein Vater ist auch Rabbiner. Die Eltern leben in
       Mykolajiw, einer Stadt, die seit Kriegsbeginn fast täglich unter Beschuss
       steht. Sie können ihre Gemeinde nicht im Stich lassen. Jeden zweiten Tag
       telefoniert er mit ihnen. Als Mykolajiv einmal komplett von der
       Wasserversorgung abgeschnitten war, schickte er ihnen einen ganzen Bus mit
       Wassertanks aus Lwiw.
       
       Seine Eltern kamen Mitte der neunziger Jahre nach Mykolajiw in den Süden
       der Ukraine, um dort die Gemeinde aufzubauen. Heute ist Mendel 27, damals
       war er ein Baby. Die Stadt war eine „jüdische Wüste“ sagt er, die
       postsowjetischen Gemeinden hungrig nach jüdischem Leben. Mendel wuchs dort
       auf, bis er als Teenager zur Rabbinerausbildung nach Israel, in die USA und
       Deutschland wegging. Etwas anderes, als Rabbiner zu werden, kam ihm nie in
       den Sinn.
       
       ## Man tunkt Äpfel in Honig, wünscht sich ein gutes neues Jahr
       
       Am 25. September beginnt Rosch Haschana. In der großen Synagoge wird es
       einen Gottesdienst des Zentralrabbiners von Lviv geben. In der Kultur- und
       Wohlfahrtsstelle Hessed Arieh haben sie die Feier vorgezogen und ein paar
       Tage früher gefeiert. Mendel und Maschi bereiten sich morgen auf eine große
       Feier vor, die Reformgemeinde Tejva übermorgen. Doch Feierlaune will
       nirgends so richtig aufkommen. Man tunkt Äpfel in Honig, wünscht sich ein
       gutes neues Jahr, spricht von Hoffnung, vom Sieg gegen das Böse. Manche
       haben Söhne oder Brüder, die an der Front kämpfen. Zu Mendels Feier taucht
       ein Mädchen aus dem Donbass in Uniform auf.
       
       Alle sprechen untereinander Russisch, nicht Ukrainisch. Das hat
       soziologische und historische Wurzeln. Während der Sowjetzeit hatte in
       einem fließenden Übergang das Russische allmählich Jiddisch, die
       traditionelle Sprache, ersetzt.
       
       In Gesprächen verneint jeder, in den letzten Jahren Antisemitismus erfahren
       zu haben. Vielleicht gebe es ihn, sagen sie, aber niemand hat etwas
       Konkretes zu erzählen. Offener Antisemitismus, so klingt es durch, sei ein
       Übel der Sowjetzeit, vielleicht auch der neunziger Jahre. Beim ukrainischen
       Nationalisten Stepan Bandera scheiden sich die Geister. Aber jetzt haben
       sie größere Sorgen als Bandera.
       
       Sascha Somisch und Mendel Gottlib haben sich im echten Leben noch nie
       getroffen. Aber sie sind auf Facebook befreundet. Jetzt regnet es nicht.
       Für Sascha ist es seit Kriegsbeginn erst das sechste Mal, das sie ihr Haus
       verlässt. Sie sei durchgedreht, erzählt sie. Sascha hat Angst vor Covid und
       Angst vor dem Luftalarm und schämt sich dafür. Bevor es dämmert und der
       Feiertag beginnt, laufen wir immer wieder um die Blöcke in der Nähe ihres
       Hauses.
       
       Saschas Großvater väterlicherseits war Jude. Jahrelang bereitete ihr das
       Kopfzerbrechen, sie wollte auch jüdisch sein. Bis ein Professor in
       Jerusalem zu ihr sagte: „Besser eine gute Goyka als eine schlechte Jüdin.“
       Goyka ist der gängige Name für Nichtjuden. Seine Weisheit beruhigte sie.
       Bis zur Pandemie besuchte sie die kleine Lwiwer Reformgemeinde. Sascha hat
       ein blasses Gesicht, pechschwarze Haare und trägt aus Angst um ihre
       kränkliche Mutter eine Maske. Wenn sie vom jiddischsprachigen Theater Lwiw
       spricht, mit dem sie aufgewachsen ist, von der Klezmermusik erzählt, für
       die sie so sehr brennt, benutzt sie große Worte: ve-li-ka-lep-no –
       großartig. Vol-sheb-no – zauberhaft. Tschju-des-no – wunderbar.
       
       Sie wollte sich treffen, um von ihrer Musik zu erzählen – von der
       Klezmer-Band „Varnitshkes“, die sie 2007 mit Unterstützung von Ada Dianova,
       Leiterin von der jüdischen Wohlfahrtsstelle in Lwiw, gründete. Vom „Lwiw
       Klezfest“, das sie zusammen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern
       organisierte und das vor der Pandemie in der Ukraine Bekanntheit erlangte.
       Bis 2014 hatten „Varnitshkes“ in St. Petersburg jahrelang mit russischen
       und jüdischen Kolleginnen und Kollegen auf dem Festival der Toleranz gegen
       Faschismus angesungen. „Never again“, schworen sie. Es waren dieselben
       Kollegen, von denen sich jetzt alle bis auf wenige schweigend von ihr
       abgewandt haben.
       
       Heute heißt die Band nicht mehr „Varnitshkes“ sondern „Shtrudl“. Auch Lena
       und Tatjana von den „scheynen Meydelach“ gehören dazu. Die Band ist
       allerdings geschrumpft, zwei Teilnehmerinnen kämpfen an der Front. Sascha
       selbst kann seit dem 24. Februar, dem Beginn des russischen Angriffs, nicht
       mehr singen. Mit Tatjana von „Shtrudl“ telefoniert sie fast jeden Tag. Zur
       Unterstützung ihres Landes dichteten sie eine Version des ukrainischen
       Volksliedes Oy u luzi chervona kalina auf Jiddisch um. Auf [1][Youtube] hat
       das Video 70.000 Klicks.
       
       Wir laufen und reden. Plötzlich ertönt Saschas zarte Stimme: „Farkoyfn di
       sapozhkelekh / Un forn oyf di droyzhkelekh“ Leise singt sie von den
       sapozhkelekh, den Stiefelchen. „Ich würde meine Stiefelchen verkaufen, um
       bei Dir zu sein, mein Kätzchen, mein Vögelchen.“ Es ist ein jiddisches Lied
       – ein Liebeslied.
       
       30 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.facebook.com/watch/?v=1056028491941494
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marina Klimchuk
       
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   DIR Juden in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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