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       # taz.de -- Regionalwahlen in Russland: Eine Wahl ohne Auswahl
       
       > An diesem Wochenende sind Wahlen in Russland, die Opposition hat es
       > schwer. Der Moskauer Nikolai Kassjan tritt an. Wenn der Staat ihn lässt.
       
   IMG Bild: Mutig und optimistisch: Nikolai Kassjan, 24 Jahre alt, will den Menschen Politik nahe bringen
       
       Der Anruf könnte jederzeit kommen. Die Mitteilung: Das war's, gestrichen
       von der Liste, „heruntergenommen“ von der Wahl. Noch aber schiebt Nikolai
       Kassjan diesen Gedanken beiseite, wenn er auf sein Telefon schaut, mit
       seinem Anwalt telefoniert, mit seinen Mitstreiter*innen. Im Nieselregen
       läuft er durch Chamowniki, einen hübschen Stadtteil im Zentrum Moskaus, in
       der Ferne rattert ein Vorschlaghammer. „In dem Krankenhaus dahinten bin ich
       geboren, hier um die Ecke wohne ich, dort ist einer meiner Lieblingsparks“,
       erzählt er.
       
       Es ist sein Zuhause, sein Moskau. Hier will der 24-Jährige etwas bewegen
       und an diesem Sonntag Stadtteilabgeordneter werden. Als Kandidat, der sich
       offen gegen den russischen Krieg in der Ukraine ausspricht. „Für den
       Frieden“, steht auf Kassjans Flugblättern, die er mitnimmt, wenn er Tag für
       Tag von Wohnung zu Wohnung in Chamowniki zieht und in einer Atmosphäre von
       Angst und Apathie im Land sagt: „Diese Wahl ist wichtig für ein freies
       Russland der Zukunft“.
       
       Im Schatten des [1][Krieges in der Ukraine], den der Kreml offiziell
       „militärische Spezialoperation“ nennt, sind von Freitag bis Sonntag knapp
       45 Millionen Menschen in 82 Regionen aufgerufen, in rund 4700 Wahlen auf
       unterschiedlichen Ebenen ihre Vertreter*innen zu wählen. Gouverneure,
       Regionalräte, Lokalabgeordnete. Es ist eine Wahl ohne Auswahl, da es dem
       Kreml darum geht, durch die Regionalabstimmung eine starke Einheit zwischen
       Staat und Volk zu demonstrieren.
       
       Vor allem die Opposition hat es schwer. Führende Figuren wie [2][Alexei
       Nawalny] oder auch [3][Ilja Jaschin] sind in Haft, viele andere haben
       spätestens ab Februar das Land verlassen. Die, die im Land geblieben sind
       und sich offen gegen die Politik der Regierung positionieren, werden mit
       Geldstrafen belegt oder durch fadenscheinige Gründe von der Wahl
       ausgeschlossen. „Es ist unmöglich, von einer freien politischen
       Willensbekundung zu sprechen“, heißt es bei der
       Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ (Stimme), die russische Behörden als
       „ausländischen Agenten“ führen. Staatlichen Schikanen zum Trotz will
       „Golos“ dennoch Wahlbeobachter*innen in die Wahllokale schicken.
       
       ## Selbst denken, statt auswendig lernen
       
       Festnahmen, Gerichtsverhandlungen, Ordnungsstrafen – für Nikolai Kassjan
       gehören diese Instrumente längst zu seinem Leben. Wie auch Politik stets zu
       seinem Leben dazugehörte. Großmutter Anna war in einer Dissidentenfamilie
       aufgewachsen und hatte in den Endjahren der Sowjetunion eine Privatschule
       gegründet. „Nicht zum Auswendiglernen, sondern zum Selbstdenken“, wie ihr
       Enkel heute sagt, der diese Schule durchlaufen hatte. Sein Vater hatte sich
       Anfang der 2000er Jahre politisch engagiert, auch jetzt tritt er, nach
       einer längeren Pause, in einem anderen Moskauer Stadtteil zur Wahl an. Der
       Stiefvater arbeitet als unabhängiger Journalist, mittlerweile aus Lettland.
       
       Als er 14 war, ging Kassjan zu seiner ersten Antiregierungsdemo. „Ich hatte
       so lange gebettelt, dass mich meine Eltern mitnahmen.“ Er fing an, sich
       politisch zu engagieren, erst als Freiwilliger für die
       Antikorruptionsstiftung von Nawalny, später als Mitarbeiter in dessen
       Moskauer Regionalstab. Er war Pressesprecher der Moskauer liberalen
       Lokalabgeordneten [4][Julia Galjamina], durchlief mit ihr die Wahlkampagne
       zur Moskauer Stadtratswahl 2019. „Ich habe aufgehört, mich immer umzusehen,
       wenn ich das Haus verlasse, habe aufgehört, Sorge zu haben, dass
       Spezialpolizisten in aller Frühe meine Wohnung durchsuchen, aufgehört,
       Angst zu haben. Angst ist nicht gesund“, sagt er.
       
       Im März, nach der russischen Invasion in der Ukraine, verließ Kassjan
       Russland. Im Juni kehrte er zurück, allein, ließ sich als Kandidat der
       linksliberalen Partei „Jabloko“ registrieren. „Ich will nicht an der Leine
       gehen, ich will, dass die Menschen lernen, verantwortungsbewusst zu sein.
       Dass es ihnen gestattet wird, Verantwortung für sich und ihr Umfeld zu
       übernehmen.“
       
       Seitdem ist er 14 Stunden am Tag auf den Beinen, klingelt bei den Menschen,
       trinkt mit manchen Tee, erklärt, dass es doch keine „naive Dummheit“ sei,
       zur Wahl zu gehen. „Der Staat hat uns die Instrumente genommen, diesen
       Krieg zu stoppen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, dafür zu sorgen, dass die
       Menschen sich ihres Bürger-Daseins bewusst werden. Damit es keinen nächsten
       Krieg geben kann.“
       
       ## Vertrauen in die Politik
       
       Er klingt nicht pathetisch, sondern völlig davon überzeugt, dass er was zu
       sagen hat, auch wenn der Staat ihm das Sagen verbieten will. Wegen Nawalny.
       Alle Organisationen des inhaftierten Politikers gelten in Russland als
       extremistisch. Wegen Ordnungsstrafen, einst die Symbole von Nawalnys
       Stiftung verwendet zu haben, droht die Wahlkommission Kassjan nun mit
       Wahl-Aussschluss.
       
       Stadtteilabgeordnete sind vor allem Ansprechpartner*innen, wenn in der
       Unterführung das Licht nicht funktioniert, wenn Schranken bei Einfahrten
       klemmen, wenn auf dem Spielplatz im Hof der Mülleimer fehlt. Banale
       Alltagsdinge, durch die die Menschen durchaus zu verstehen lernen, dass
       Politik ein Teil ihres Lebens ist. Vielen Russ*innen ist dieser Gedanke
       über Jahrzehnte hinweg ausgetrieben worden. Sie fühlen sich außerhalb der
       Politik, außerhalb jeglicher Einflusszone. Wahlen sind für sie
       „irgendwelche Spielchen irgendwelcher korrupter Typen“.
       
       Nikolai Kassjan ist sich dessen voll bewusst, wie er sich auch allen
       Risiken seines Engagements bewusst ist. Er wolle in seinem Stadtteil eine
       Community schaffen, einen Anlaufpunkt, bei dem die Menschen wissen, wie sie
       reagieren könnten, wenn sie mit dem, was die Stadt- oder die
       Landesregierung beschlossen haben, nicht einverstanden seien. Eine solche
       Bewegung sei auch möglich, wenn er kein Abgeordneter werde. Aber als
       Abgeordneter habe er eben mehr politischen Einfluss.
       
       Rechtlich dürfte er so kurz vor der Wahl eigentlich nicht mehr abgesetzt
       werden. „Auf Überraschungen jeglicher Art ist man in Russland aber immer
       eingestellt“, sagt der 24-Jährige und schaut wieder in sein Telefon. Keine
       Nachricht von der Wahlkommision. Weiter geht’s. Zum nächsten Haus, zur
       nächsten Wohnung.
       
       Hinweis der Redaktion: Am späten Donnerstag kommt der Anruf. 18 Stunden vor
       Beginn der Wahl wurde Nikolai Kassjan darüber informiert, dass seine
       Kanditatur in einem geheimen Treffen – rechtswidrig – abgewiesen wurde.
       
       9 Sep 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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