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       # taz.de -- Erinnerungsort für ein Gefängnis: In der Zelle erklingt eine Stimme
       
       > Hinter einer Backsteinmauer am Berliner Hauptbahnhof verbirgt sich die
       > Geschichte eines Knasts. Dort sperrten die Nazis politische Gefangenen
       > ein.
       
   IMG Bild: Der Geschichtspark: früher stand hier das ehemalige Zellengefängnis Berlin-Moabit
       
       Berlin taz | Weder vom Berliner Hauptbahnhof noch von der neuen
       Europa-City ist das Gelände einzusehen. Und doch liegt dort in ihrer
       Mitte, eingeklemmt zwischen der Lehrter Straße und der Minna-Cauer-Straße:
       das [1][ehemalige Zellengefängnis Moabit]. Heute ist es ein Geschichtspark.
       
       Tritt man durch die Betonbögen in das eingemauerte Gelände wird es
       plötzlich still. Es ist, als habe der Ort seine Umgebung genauso vergessen,
       wie sie ihn. Zwei der ehemaligen Gefängnisflügel sind durch betongerahmte
       Furchen in den grünen Wiesen gekennzeichnet. Im Zentrum des Areals, das
       viel größer ist als zum Beispiel das Denkmal der Sinti und Roma vor dem
       Bundestag, steht eine nachgebaute Zelle aus Beton. Nicht mehr als sechs
       Quadratmeter misst der Quader.
       
       Die Nationalsozialisten sperrten vor allem politische Gefangene in solche
       engen Zellen. In der Nacht des 22. April 1945, nur wenige Tage bevor Berlin
       vollständig in die Hände der Alliierten fiel, ermordete die Gestapo
       sechzehn dieser Gefangenen. Darunter der Widerstandskämpfer Albrecht
       Haushofer. Als sein Bruder ihn fand, hatte er noch die fünf eng mit
       Gedichten beschriebenen DIN-A4-Seiten in der Hand, die 1946 als die
       „Moabiter Sonette“ herausgegeben wurden. Ein Audiowalk, zu finden auf der
       [2][Website der Gedenkstätte Deutscher Widerstand], führt einen vom
       Zellengefängnis bis zu Haushofers Grab.
       
       Nach dem Krieg nutzten die Alliierten das Gefängnis. Am 11. Mai 1949 fand
       hier die letzte Hinrichtung eines Straftäters in Westberlin statt: durch
       die Guillotine. Ende der 1950er Jahre wurde der Komplex abgerissen; der
       Gefangenenfriedhof entwidmet und in eine Kleingartenanlage umgebaut. Bis
       2003 war das Gelände ein Parkplatz.
       
       ## Kampf ums Denkmal
       
       „Für den Kiez hat das Denkmal vor allem in den 1990ern eine Rolle gespielt,
       weil damals viele darum gekämpft haben“, sagt Susanne Thorka vom
       Betroffenenladen, einer Kiezinitiative aus der Lehrter Straße. 2003
       begannen die Arbeiten an dem Geschichtspark. 2007 bekam das Projekt den
       [3][deutschen Landschaftsarchitekturpreis] verliehen. Heute gehen die Leute
       aus dem Kiez manchmal zum Spazieren durch den Park, oder wenn sie zum
       Hauptbahnhof müssen.
       
       Auf der anderen Seite führt die Minna-Cauer-Straße an der vier Meter hohen
       Gefängnismauer entlang zur neuen Europa-City. Moderne Wohn- und Büroblocks
       sind hier in den letzten Jahren hochgeschossen. Auf der Straße kennt
       niemand das Denkmal. Nicht einmal die Betreiber des hier ansässigen
       Europa-City-Imbisses haben auch nur davon gehört.
       
       Zwischen der gläsernen Hochhausstadt und dem Hauptbahnhof liegt eine
       Zeltstadt im Schatten der Backsteinmauer. Das Roma-Lager war früher unter
       der Bahnbrücke. Am neuen Standort, neben dem Geschichtspark, sind die
       Einwohner dem Wetter gänzlich ausgesetzt. Sie haben kein Essen und es ist
       kalt, sagt einer, der seinen Namen nicht nennen möchte. Zum Geschichtspark
       sagt er nichts.
       
       ## Die „Moabiter Sonette“
       
       In der Zelle liest eine ruhige Stimme die [4][„Moabiter Sonette“] vor. An
       der östlichen Mauer steht ein Gedicht von Haushofer: „Von allem Leid, das
       diesen Bau erfüllt, ist unter Mauerwerk und Eisengittern ein Hauch
       lebendig, ein geheimes Zittern, das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.“
       
       Gegenüber dem Schriftzug liegen Spielplätze. An mehreren Stellen liegen
       zerknüllte Pullis herum. Zwei Männer aus dem Zeltlager sitzen hier und
       unterhalten sich. Eigentlich scheint niemand den Park so viel zu nutzen wie
       die Roma.
       
       Rund 330.000 Reisende ziehen täglich durch den Berliner Hauptbahnhof. Wie
       viele von Ihnen wissen wohl, an was hinter der großen Mauer, die sie aus
       ihren Zügen für ein paar Sekunden sehen können, erinnert wird? Ein Ort, der
       gegen das Vergessen kämpft, könnte kaum vergessener wirken.
       
       25 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.berlin.de/tourismus/parks-und-gaerten/4216129-1740419-geschichtspark-zellengefaengnis-moabit.html
   DIR [2] https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/online-angebote/audiowalk-haushofer/
   DIR [3] https://www.deutscher-landschaftsarchitektur-preis.de/archiv/preis-2007/119-geschichtspark-ehemaliges-zellengefaengnis-moabit-berlin
   DIR [4] https://www.deutschelyrik.de/moabiter-sonette.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hanno Rehlinger
       
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