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       # taz.de -- berliner szenen: Unter jedem Dach ein Ach
       
       Sie sehen fantastisch aus“, sagt meine gute Freundin A. zu einer älteren
       Frau. Die Frau trägt ein schlammfarbenes Kleid und kurzes graues Haar. Es
       glänzt silbern, fast so silbern wie die extravaganten Ohrringe an ihren
       Ohren. Sie sitzt wie wir in einem Café, blättert in einer Zeitschrift.
       Vielleicht ist es ein Psychologiemagazin. Von denen stecken einige in einem
       Ständer neben dem Eingang.
       
       Mit ihrer Bemerkung hat meine Freundin jedenfalls Recht. Die Frau sieht
       tatsächlich fantastisch aus. Ich kann nicht sagen, woran es liegt. Ist es
       der Schmuck? Ihr leicht melancholischer und dennoch selbstsicherer Blick?
       
       Die Frau sitzt alleine in dem kleinen Café an der Prenzlauer Allee und
       fühlt sich von dem Kompliment zunächst nicht angesprochen. Sie lächelt
       jedoch, als sie versteht, dass sie gemeint ist. Meine Freundin hat der Frau
       wohl ein stückweit den Tag erhellt, denke ich. „Und Sie haben so eine
       Ruhe“, sagt meine Freundin A. zu einer anderen Frau, der Besitzerin des
       kleinen Cafés. Auch sie freut sich sichtlich.
       
       Komplimente machen, einfach so, fremden Menschen. Das ist ganz meine
       Freundin A. Mir bleiben über so viel Glanz die Worte weg. Also werfe ich A.
       einfach einen Kuss zu.
       
       Hatten wir uns zuvor doch noch über so viel Unerfreuliches unterhalten.
       Unter anderem hatte A. von einer Freundin erzählt, die sich gerade getrennt
       hat und deren Mutter Krebs hat. Ständig passierten schlimme Dinge, hatte A.
       gesagt und mich gefragt, ob die Formulierung „Unter jedem Dach ein Ach“,
       grammatikalisch richtig sei. A. kommt aus Polen und spricht gut Deutsch,
       aber nicht immer perfekt. Ich sage ihr, dass das Sprichwort korrekt ist.
       
       Gegen jedes Ach hilft ein Kompliment von meiner Freundin A., denke ich, als
       ich nach unserem Treffen beseelt auf dem Fahrrad sitze. Wenigstens für ein
       paar Sekunden.
       
       Lea De Gregorio
       
       7 Oct 2022
       
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