URI: 
       # taz.de -- Nobelpreisträgerin Annie Ernaux: Aus der nackten Realität
       
       > Die Scham ist der rote Faden in Annie Ernaux’ Werk. Was die
       > gesellschaftliche Tragweite ihrer Schriften ausmacht: ihre soziale
       > Herkunft.
       
   IMG Bild: Die Stärke, Verletzlichkeit zu zeigen: Annie Ernaux (hier 2002) erhält den Literaturnobelpreis 2022
       
       Sie habe nie in Metaphern oder Allegorien geschrieben, so charakterisiert
       die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ihre Bücher. Der
       Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr nicht an das Altehrwürdige,
       Gehobene, Raffinierte. Sondern an das Schäbige, das Eiskalte, das scharf
       Blutende. Und das ist eine gute Entscheidung. Ernaux ist keine Künstlerin,
       die auf die Armen und Ungesehenen blickt, sondern eine, die direkt aus
       dieser Perspektive heraus schreibt. Nichts läge der französischen
       Schriftstellerin Ernaux ferner als ein Satz, wie er 2020 von
       Nobelpreisgewinner Peter Handke fiel: „Ich komme von Tolstoi, von Homer,
       von Cervantes.“ Denn Ernaux kommt aus der Armut, aus der nackten Realität.
       
       Die Scham als roter Faden in Ernaux’ Werk, ihre soziale Herkunft, Tochter
       aus einer bildungsfernen Arbeiterfamilie, machen die gesellschaftliche
       Tragweite des Werkes aus.
       
       Ernaux’ Stärke besteht darin, nicht Stärke zu zeigen – sondern
       Verletzlichkeit. Ob sie über eine erlittene Vergewaltigung, eine
       [1][illegale (und entsprechend brutale) Abtreibung], über das Aufwachsen
       in Armut oder über Krankheit und Tod schreibt: Es ist die Scham, die sich
       durch alles zieht. „Ich wollte immer Bücher schreiben, über die es mir dann
       unmöglich sein würde zu sprechen. Bücher, die den Blick des anderen
       unerträglich machen“, schreibt sie in ihrem Roman mit dem – geradezu
       unvermeidlichen – Titel „Die Scham“. Dabei ist Ernaux niemals
       exhibitionistisch. Vielmehr ist ihre Introspektion eine konsequente und
       gnadenlose Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Schreiben mache ihr
       immer Angst, sagte Ernaux einmal. Wer sie liest, weiß, warum.
       
       Der französische Sozialwissenschaftler Didier Eribon landete mit seinem
       ebenfalls autobiografischen Buch „Rückkehr nach Reims“ 2016 in Deutschland
       einen Riesenerfolg – denn er traf einen Nerv, indem er ein scheinbares Tabu
       brach: über die Scham über die soziale Herkunft zu sprechen. Es gab eine,
       die das schon längst vor ihm tat und die er auch mit viel Anerkennung
       zitiert. Es ist Annie Ernaux.
       
       Die Schriftstellerin ist aber auch in anderer Hinsicht [2][immer schon eine
       Vorreiterin gewesen]. Eine Feministin, die von illegaler Abtreibung („Das
       Ereignis“), von sexualisierter Gewalt („Erinnerung eines Mädchens“)
       erzählt, lange bevor der Feminismus im 21. Jahrhundert neu aufblüht.
       
       Die heute 82-jährige Schriftstellerin ist sich trotz Weltruhms treu
       geblieben. Immer beteiligt sie sich am aktuellen politischen Geschehen,
       nimmt Stellung, verteidigt die Mittellosen. 2019 ist Ernaux
       Mitunterzeichnerin eines offenen Briefes in der französischen Tageszeitung
       Libération, wo es heißt: „Die Gelbwesten, das sind wir“. So mancher
       Linksintellektuelle war sich für eine solche Nähe zur Straße zu fein.
       
       Unter anderem „für ihren Mut“ werde der Französin nun der Nobelpreis
       verliehen, hieß es von der Schwedischen Akademie. In diesem Fall ist das
       keine Floskel.
       
       6 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Verfilmung-von-Ernaux-Roman/!5841808
   DIR [2] /Annie-Ernaux-ueber-1968-in-Frankreich/!5501337
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Fauth
       
       ## TAGS
       
   DIR Französische Literatur
   DIR Feminismus
   DIR Nobelpreis für Literatur
   DIR Annie Ernaux
   DIR GNS
   DIR GNS
   DIR Herkunft
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Annie Ernaux
   DIR Nobelpreis
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Spielfilm
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Literaturnobelpreis 2023: Jon Fosse ausgezeichnet
       
       Der Nobelpreis für Literatur geht in diesem Jahr an den Norweger Jon Fosse.
       Das hat das Nobelpreiskomitee in Stockholm am Donnerstag verkündet.
       
   DIR Ex-Hartz-IV-Empfängerin über Karriere: „Soziale Herkunft sieht man nicht“
       
       Natalya Nepomnyashcha hat ein Netzwerk für Menschen aus finanzschwachen
       Familien gegründet. Ein Gespräch über soziale Scham.
       
   DIR Übersetzerin von Annie Ernaux: Ihre Stimme auf Deutsch
       
       Sonja Finck ist die deutsche Übersetzerin von Annie Ernaux. Dass die
       Nobelpreisträgerin hier so viel gelesen wird, liegt auch an ihr. Ein
       Porträt.
       
   DIR Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux: „Ich bin eine Frau, die schreibt“
       
       Die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux über
       Vergangenheit, sozialen Aufstieg und das Schreiben als Prozess des
       Nachdenkens.
       
   DIR Friedensnobelpreis 2022: Ein Zeichen gegen Krieg und Diktatur
       
       Der Friedensnobelpreis geht an Ales Bjaljazki aus Belarus, die russische
       Organisation Memorial und die ukrainische Menschenrechtsorganisation Center
       for Civil Liberties.
       
   DIR Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Die Sezierende
       
       Annie Ernaux hat viel dazu beigetragen, dass sogenannte Frauenthemen ins
       Zentrum der Literatur rücken. Der Nobelpreis für sie ist auch eine
       literarische Richtungsentscheidung.
       
   DIR Verfilmung von Ernaux-Roman: In der Liebe und in der Lust
       
       In „Das Ereignis“ erzählt Annie Ernaux von einer verbotenen Abtreibung. Die
       Regisseurin Audrey Diwan hat den Roman nun sensibel verfilmt.