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       # taz.de -- Retrospektive über lesbischen Kunstraum: In Raum und Zeit grätschen
       
       > Der Westberliner Off-Space „Pelze Multimedia“ räumte ab den 1980ern Platz
       > für freie, feministische Kunst ein, wie eine Schau in Frankfurt zeigt.
       
   IMG Bild: Außenansicht des Kunstraums „Pelze“ in der Potsdamerstraße in Berlin Schöneberg (1985)
       
       Die Schau wirft ihre Schatten voraus. „Pelze“ prangt nun auf der
       Fensterscheibe im Ausstellungsraum Synnika, und „Pelze“ strahlt es am
       Eröffnungstag auch von der gegenüberliegenden Hauswand, hinter der sich
       heute ein Hotel befindet. Ob hier denn ein neues Pelzgeschäft eingezogen
       sei, soll schon ein Ladenbesitzer aus der Nachbarschaft interessiert
       gefragt haben.
       
       Nee, nur Kunst. Beziehungsweise Ausstellung. Dabei spielen ehemalige
       Pelzgeschäfte in diesem Fall tatsächlich eine schöne Nebenrolle.
       
       Der Projektraum Synnika im Frankfurter Bahnhofsviertel zeigt „Pelze“, eine
       Retrospektive des gleichnamigen lesbisch-feministischen Projekts Pelze
       Multimedia, das von 1981 bis 1996 in einem von Frauen besetzten Haus in der
       Potsdamer Straße in Berlin Quartier bezog. Zur Eröffnung präsentiert
       Künstlerin und Mitbegründerin [1][Roswitha Baumeister] eine Bild- und
       Tonprojektion, die sie in den vergangenen Jahrzehnten so oder so ähnlich an
       verschiedenen Orten dieser Welt aufgeführt hat.
       
       ## Parallelen einst und jetzt
       
       Es gibt einige grundlegende Parallelen: Sowohl der feministische Off-Space
       als auch dieser Ausstellungsraum befinden beziehungsweise befanden sich in
       einem ehemaligen Pelzhandel. Und auch Synnika, im Erdgeschoss eines
       genossenschaftlich verwalteten, selbst organisierten Mietsyndikats, hat
       sich die Aneignung des Stadtraums und dessen aktive Mitgestaltung zur
       Aufgabe gemacht.
       
       Im Gegensatz zum Frankfurter Projektraum wurde allerdings in Berlin damals
       auch drinnen viel geraucht und getrunken. Und Zutritt hatten ausschließlich
       Frauen: „Das PELZE-Projekt ist ein Raum für die weiblichen Künste –
       Austausch, Inspiration, Aufspüren, Entdecken, Kucken lernen und viel mehr
       –, der aus der Inspiration zwischen PELZE und den Interessierten entsteht.
       Ladies only“, schrieben seine Macherinnen.
       
       Und man wird sofort hineingezogen in diesen Ort, der hier nur rekonstruiert
       werden kann: Wie wohltuend und ungewöhnlich das wirkt, einen expliziten
       Kunst-Raum für Frauen zu besetzen! Dort wurden dann nicht nur Lesungen,
       Vorträge und Diskussionsabende veranstaltet, sondern auch Ausstellungen von
       Künstlerinnen gezeigt und Hörspiele aufgeführt, die ausschließlich von
       Protagonistinnen handeln (dies, man merkt es gleich, ist noch heute
       ungeheuerlich ungewohnt).
       
       ## Kopfloser Blick
       
       Auch die taz berichtete. 1988 schrieb [2][Katrin Bettina Müller] über
       Christiane Kaltenbachs Fotografie-Ausstellung bei Pelze Multimedia – und
       der Layouter (die Layouterin?) genehmigte sich den kessen, dabei durchaus
       bedenkenswerten Einschub: „Verdammt, warum ist denn immer noch selbst der
       weibliche Blick auf den Frauenakt kopflos?“
       
       Kuratorin Sarah Happersberger lässt ihre Zeitzeugnisse und Zeitzeuginnen
       für sich sprechen und arrangiert eher assoziativ– eine gute Entscheidung.
       Der weitestgehende Verzicht auf eine einordnende Erzählerin wirkt wohl auch
       einer allzu starken Legendenbildung entgegen (wenngleich ein bisschen
       Nostalgie durchaus aufkommen kann). Und damit wäre man dann wieder in der
       Gegenwart angelangt und der Frage, ob und wie und wo Ähnliches überhaupt
       noch möglich wäre.
       
       Ein Selbstläufer, auch das macht diese Archivschau deutlich, war die
       Eroberung freier Räume schon damals keineswegs. Etliche Dokumente in der
       vertrauten Type elektronischer Schreibmaschinen erinnern an den
       Erfindungsreichtum ihrer Verfasserinnen, sich im zunehmend
       anforderungsintensiven Verordnungsdschungel der Bundesrepublik
       durchzuschlagen.
       
       ## Strategische Verve
       
       Da wurden Anträge auf Bezuschussung getippt, Forderungen formuliert, mit
       anarchischem Witz und strategischer Verve Vereine gegründet und bisweilen
       auch die Nähe zum Establishment gesucht. Man muss eben auch frech genug
       sein.
       
       Geschichte wiederholt sich nicht, so lässt sich auch der subkulturelle,
       lesbische Off-Space aus [3][dem Westberlin der 1980er und 1990er Jahre]
       nicht einfach so im Hier und Heute reproduzieren. Ebenso kann keine noch so
       generöse Stadtpolitik die Zeit zurückdrehen – wenngleich sie natürlich
       dafür verantwortlich ist, entsprechende Räume nicht allein dem Investment
       feilzubieten.
       
       Einen entscheidenden Hinweis auf das Zusammenwirken von Raum, Zeit und Geld
       lieferte Roswitha Baumeister selbst. In dieser Form sei ein Ort wie Pelze
       Multimedia heute nicht mehr zu betreiben, erklärte sie 2017 in einem
       Interview mit der Siegessäule. „Einmal könnte man die Miete für solche
       Räume nicht mehr zahlen. Zum zweiten waren damals unsere privaten Mieten
       auch äußerst gering, wir haben für unseren Lebensunterhalt ja nur wenig
       Geld gebraucht. Deshalb hatten wir mehr Zeit.“
       
       Wenn über Freiräume, Lücken und Leerstellen gesprochen wird, dann sollte es
       also nicht allein um die physischen gehen. „Pelze Multimedia“. Da war in
       jeglicher Hinsicht noch Platz im Raum-Zeit-Kontinuum.
       
       9 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina J. Cichosch
       
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