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       # taz.de -- Brasilien vor der Präsidentschaftswahl: „Reale Gefahr eines Anschlags“
       
       > In Brasilien nimmt vor den Präsidentschaftswahlen die politische Gewalt
       > zu. Vor allem Anhänger*innen der Arbeiterpartei PT werden
       > angegriffen.
       
   IMG Bild: PT-Chefin Gleisi Hoffmann spricht bei einer Gedenkveranstaltung für den getöteten Poltiker Marcelo Arruda
       
       São Paulo taz | Am 24. August verlässt der linke Politiker Rodrigo Mondego
       gegen 14 Uhr ein Wahlkampfbüro im Zentrum von Rio de Janeiro. Plötzlich
       schneidet ihm ein Auto den Weg ab. Am Steuer sitzt ein Mann, öffnet das
       Fenster. „Er richtete eine Pistole auf mich und schrie Beleidigungen“,
       erzählt Mondego der taz. Der Menschenrechtsanwalt, der in diesem Jahr für
       die Arbeiterpartei PT in den Stadtrat einziehen will, kommt mit dem
       Schrecken davon. Der Mann zieht ab, Mondego erstattet Anzeige.
       
       Am 2. Oktober findet in Brasilien die erste Runde der
       [1][Präsidentschaftswahl] statt. Alles läuft auf einen Showdown zwischen
       dem rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz Inácio
       „Lula“ da Silva hinaus. Die brasilianische Gesellschaft ist extrem
       polarisiert, die Anspannung wegen der näherrückenden Wahl ist im Land zu
       spüren. Unlängst zeigte eine Studie des Meinungsforschungsinstituts
       Datafolha, dass 67,5 Prozent der Brasilianer*innen Aggressionen wegen
       ihrer politischen Entscheidungen fürchten. Und die Episode aus Rio de
       Janeiro ist kein Einzelfall.
       
       Besonders hohe Wellen schlug der Fall von Marcelo Arruda. Der
       Lokalpolitiker der Arbeiterpartei PT wurde Mitte Juli auf seiner
       Geburtstagsparty von einem Bolsonaro-Anhänger ermordet. Im Bundesstaat Mato
       Grosso tötete am 7. September ein Bolsonaro-Fan einen Anhänger von
       Ex-Präsident Lula nach einer politischen Diskussion. Laut Polizeiangaben
       soll der Täter versucht haben, sein Opfer zu enthaupten.
       
       Viele machen Bolsonaro für die Angriffe mitverantwortlich. Regelmäßig ruft
       der Rechtsradikale ganz offen zu Gewalt auf. Bei einer
       Wahlkampfveranstaltung 2018 schnappte sich Bolsonaro einen Mikrofonständer,
       imitierte damit ein Gewehr und brüllte in das Mikrofon: „Wir werden die
       Petralhada (abwertende Bezeichnung für Anhänger*innen der PT, die Red.)
       erschießen.“ Der Präsident weist jede Verantwortung für die Gewalt von
       sich.
       
       ## Gewalt könnte noch weiter eskalieren
       
       Auch hochrangige Politiker*innen berichten von Drohungen. Sowohl der
       linke Politiker Guilherme Boulos als auch Ciro Gomes,
       Präsidentschaftskandidat der Mitte-links-Partei PDT, wurden bei
       Wahlkampfveranstaltungen von bewaffneten Männern bedroht. Besonders die
       Sicherheit von Lula bereitet Mitarbeiter*innen der PT große Sorgen.
       
       „Es gibt die reale Gefahr eines Anschlags“, meint Mondego, der seit 2005
       Mitglied der Partei ist und mehrere Wahlkämpfe unterstützt hat. Nach
       Störungen am Rand von Wahlkampfveranstaltungen hat der Ex-Gewerkschafter
       begonnen, eine kugelsichere Weste zu tragen. Außerdem musste er aus
       Sicherheitsgründen umziehen.
       
       Bereits im Jahr 2018 kam es im Wahlkampf zu gewaltsamen Episoden. Mehrere
       Menschen starben, fast alles Linke und Unterstützer*innen der PT. Doch
       auch Bolsonaro wurde Opfer eines Anschlags: Ein Mann stach den damaligen
       Kandidaten während eines Wahlkampfauftritts nieder und verletzte ihn
       schwer. Die Polizei erklärte allerdings später, der Täter sei geistig
       verwirrt gewesen und habe keine politische Motivation gehabt.
       
       In diesem Jahr könnte sich die Situation noch weiter zuspitzen. Denn
       Bolsonaro attackiert die demokratischen Institutionen und verbreitet seit
       Monaten [2][Lügen] über das elektronische Wahlsystem. „Nur Gott“ könne ihm
       die Präsidentschaft entziehen.
       
       Bolsonaro mobilisiert außerdem regelmäßig seine radikale Wählerbasis. Am 7.
       September, dem Nationalfeiertag, gingen [3][Hunderttausende Rechte] für
       „ihren Präsidenten“ auf die Straße. Obwohl im Vorfeld mit Gewalt gerechnet
       wurde, blieben die Proteste weitestgehend friedlich.
       
       In den letzten Tagen ließ Bolsonaro überraschend gemäßigtere Töne anklingen
       und deutete in einem Interview an, auch eine Wahlniederlage zu akzeptieren.
       Die moderateren Töne dürften aber vor allem eine Wahlkampftaktik sein.
       Bolsonaro liegt klar hinter Lula, die Ablehnung gegen ihn ist groß und der
       Rechtsradikale ist auf die Stimmen der politischen Mitte angewiesen.
       
       PT-Politiker Mondego glaubt, dass Bolsonaro versuchen wird, sich mit allen
       Mitteln an der Macht zu halten. Droht gar ein Staatsstreich, wie es derzeit
       vielerorts diskutiert wird? Mondego hält die Wahrscheinlichkeit eines
       Putsches durch Sicherheitskräfte derzeit für nicht groß. „Aber komplett
       ausschließen kann man es leider trotzdem nicht.“
       
       20 Sep 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Niklas Franzen
       
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