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       # taz.de -- Ibsen-Award für das Back to Back Theatre: Aneignung und Anerkennung
       
       > Seit mehr als 40 Jahren arbeitet das Back to Back Theatre aus Australien
       > inklusiv. Am Sonntag erhielten sie in Oslo dafür den Ibsen-Theaterpreis.
       
   IMG Bild: Simon Laherty in dem Stück „The Shadow Whose Prey the Hunter Becomes“
       
       „Leg dich endlich richtig auf den Boden“, brüllt der nichtbehinderte
       Schauspieler David Woods im Nationaltheater Oslo als „Regisseur“ Mark Deans
       einen Schauspieler mit Behinderung an. Deans, in der ihm eigenen Mischung
       aus List, Trotz und Kindlichkeit, fällt wieder falsch, so sieht kein Toter
       aus. Keiner, der gerade vom so schmal und sanft aussehenden
       Hitler-Darsteller Simon Laferty erschossen wurde. „Du hast das Gehirn eines
       Goldfischs“, schreit David Woods.
       
       Als Mark Deans gefragt wird, ob er das auch so sieht – nickt er. Im Stück
       [1][„Ganesh versus the Third World“] geschieht mancher Tabubruch.
       Eigentlich ist es die märchenhafte Geschichte, wie der indische Hindugott
       Ganesh die Swastika, kulturell angeeignet als Hakenkreuz durch die Nazis,
       wieder zurück erhalten will und dafür durch Deutschland reist.
       
       Immer wieder steigt dabei das Ensemble des australischen Back to Back
       Theatre aus der mythischen Handlung aus, werden aus verwunschener
       Bühnenlandschaft mit Schattenspielen schlichte Plastikvorhänge in grellem
       Licht, diskutieren die „neurodiversen“ Schauspieler die Meta-Ebenen des
       Stücks, die inhärenten Machtstrukturen: Darf ein Schauspieler, dessen
       Sprache und Körper der Norm entsprechen, einem mental eingeschränkten
       Darsteller so etwas auf der Bühne sagen – oder reproduziert das Gewalt, die
       abgeschafft gehört?
       
       Irgendwann stürzen sie sich alle auf den zunehmend manipulativen David
       Woods und ringen ihn zu Boden. Um gleich darauf mit ihm zu diskutieren:
       Haben sie überhaupt das Recht, Juden oder indische Götter zu spielen?
       Letztlich kommen sie zur Erkenntnis: ja. Schließlich wäre das fünfköpfige
       Ensemble vom Nazi-Vernichtungsprogramm direkt betroffen gewesen.
       
       ## „Nobelpreis des Theaters“
       
       Die Inszenierung des 1987 gegründeten Back to Back Theatre ist bereits über
       zehn Jahre alt, aber die Fragen, die sie aufwirft, wirken ebenso dringlich.
       Vor zehn Jahren allerdings hätte das [2][Ensemble aus dem australischen
       Geelong] diesen Preis vermutlich noch nicht erhalten: Der Ibsen Award,
       vergeben am Nationaltheater Oslo, der Arbeitsstätte des norwegischen
       Großdramatikers, ist der höchstdotierte Theaterpreis der Welt, „Nobelpreis
       des Theaters“ wird er gerne genannt (auch wenn die knapp 260.000 Euro nicht
       an dessen Preisgeld heranreichen), Peter Brook und Ariane Mnouchkine
       gewannen ihn.
       
       Die Verleihung an ein inklusives Ensemble, das zwar einen nichtbehinderten
       Regisseur (Bruce Gladwin) und auch nichtbehinderte Schauspielgäste hat,
       ansonsten aber seine eigenen Themen setzt, markiert vielleicht auch einen
       Quantensprung in der Debatte über Repräsentation im Theater: Wer hat das
       Recht, für wen zu sprechen?
       
       Die Preisverleihung am Sonntag im Nationaltheater, das mit Stuck, rotem
       Samt und Goldverzierung noch so aussieht wie zu Ibsens Zeiten, holt diese
       Fragen auch in die Zeremonie herein: Weil das Back to Back Theatre explizit
       darauf hinweist, dass sie sich in Australien auf gestohlenem Land des Volks
       der Wadawurrung bewegen, haben das erste Wort der Zeremonie drei Mitglieder
       des Samischen Nationaltheaters, aus Nordnorwegen angereist.
       
       Auch das Back to Back Theatre arbeitet lokal intensiv mit indigenen
       Communitys, zudem mit Schulen, Studenten, Menschen mit Behinderungen. „Ich
       möchte, dass ihr seht, dass ich eine Stimme habe“, sagt Ensemblemitglied
       Sarah Mainwaring in ihrer langsamen, schwingenden Sprechweise in einer
       beeindruckenden Spoken-Word-Performance bei der Preisverleihung: „Ich will
       Geschichten erzählen, die ihr für lange Zeit nicht vergessen sollt.“
       
       Vielleicht kann man die Sache ja auch betrachten wie in ihrem neuesten
       Stück, [3][„The Shadow Whose Prey the Hunter Becomes“]: Wenn die Welt bald
       von Künstlicher Intelligenz beherrscht wird – müssen wir dann nicht alle
       mit unserer geistigen Behinderung klarkommen?
       
       22 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Archiv-Suche/!495812&s=Bettina+M%C3%BCller+Back+to+Back&SuchRahmen=Print/
   DIR [2] https://backtobacktheatre.com/
   DIR [3] /Sommerfestival-Kampnagel-Theater-Hamburg/!5871690
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Marcus
       
       ## TAGS
       
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