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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Die Hüterin der kleinen Bären
       
       > Waschbären haben es Mathilde Laininger angetan. Sie helfen der Tierärztin
       > beim Ausmisten und lehren sie Geduld.
       
   IMG Bild: Mathilde Laininger mit einem ihrer Mitbewohner
       
       Als Mathilde Laininger ein Mädchen war, hatte sie eine Krähe zum Freund.
       Dann kam ein Hund mit der Post. Sie wollte Tierärztin werden und leben, was
       ihrem Vater verwehrt geblieben war.
       
       Draußen: Tief im Westen von Berlin, nahe einem See, der Krumme Lanke heißt,
       stehen in Reihen kleine weiße Häuser dicht gedrängt. In den Vorgärten
       wuchern Pflanzen und nehmen die Sicht auf Fassade und Fenster. Am Tor zum
       Haus im hintersten Eck hängen gleich drei Schilder zu Firma, Verein und
       Praxis. Es geht um Tiere, die mit Pflanzen geheilt und [1][um Waschbären],
       die geschützt werden sollen.
       
       Drinnen: Ein voller Raum zum Wohnen, Essen, Behandeln, Verkaufen, Toben; in
       der Luft ein schwerer Geruch. Überall sitzen, liegen oder laufen Tiere
       umher. Zwei Katzen, ein großer Hund mit viel Fell, Waschbären und noch mehr
       Waschbären. Die sind gerade hinter einer Glastür, auf der Terrasse, wuseln
       dort herum, schnarrend, fauchend. Dort sitzt auch Mathilde Laininger auf
       einer hölzernen Hollywoodschaukel. Ein Waschbär zupft ihr an der Hose,
       einer sitzt ihr auf dem Schoß. Die anderen drumherum, im Planschbecken, auf
       einem Holzbalken, am Maschenzaun, Waschbären nehmen der Reporterin den
       Stift aus der Hand, Waschbären nagen am Equipment des Fotografen. Einer
       stopft sich zu viele Datteln ins Maul, ein anderer entdeckt ein Loch im
       Zaun. Nur Laininger sitzt und streicht dem Tier auf ihrem Schoß langsam
       übers Fell.
       
       Der Vater: Mathilde Laininger erzählt vom Vater. Der gab ihrem Leben die
       Richtung. In Saarbrücken erlebte er als Kind im Krieg ein Bombardement, das
       die Katze verwundete. Das Mitleid wuchs stark, fortan würde er immer wieder
       versehrte Tiere auflesen, sie pflegen. Einmal bringt er seiner Mathilde
       eine Krähe mit nach Hause. Sie soll Jakob heißen und fliegt Mathilde auf
       die Schulter, wenn sie von der Schule kommt. Später schickt der Patenonkel
       einen Dackelwelpen im Pappkarton per Post. Mathilde weiß schon, was sie
       einmal werden will.
       
       Haltung: Nach dem Abitur im Hunsrück das Studium, Tiermedizin. Die Mauer
       steht noch und Berlin ist weit weg, aber Mathilde Laininger nimmt ihren Mut
       zusammen und geht. Mut braucht sie auch an der Uni. Im
       Physiologie-Praktikum verlangt man von ihr, [2][einem lebenden Frosch das
       Herz zu entnehmen] und darüber zu staunen, wie es außerhalb des
       Froschkörpers weiterschlägt. Laininger weigert sich. „Und dann hat der
       Professor mich herzitiert und gesagt ‚Wenn Sie das nicht machen, dann
       können Sie keine Tierärztin werden.‘ Ich habe geantwortet: Okay, dann eben
       nicht.“ Am Ende gibt der Professor nach, sie muss bei der Prüfung kein Tier
       auseinandernehmen. Nach dem Studium wird Laininger Teil der Berliner
       Ethikkommission für Tierversuche, zwei Jahre lang, dann hat sie genug.
       „Eine Farce“ sei das gewesen, ständig seien Anträge einfach durchgewunken
       worden.
       
       Die Falle: Dann geht sie weiter den Weg, den Tierärzt:innen so gehen.
       Erst assistieren, danach die eigene Praxis. Aber für Laininger geht da noch
       mehr. In einer Ausbildung lernt sie, Tiere homöopathisch zu behandeln, in
       einer anderen Kräutersalben und -öle herzustellen. Für die gründet sie
       einen Vertrieb, eröffnet eine Katzenpension, besitzt zwölf Pferde und den
       großen Hund mit viel Fell. Die Praxis wächst, Laininger ist immer da, für
       sie geht immer mehr, bis gar nichts mehr geht. Sie sagt: „Ich kann schlecht
       Nein sagen, wenn es um Tiere oder Menschen in Not geht. Will ich auch
       nicht. Das stellt mich aber dann auch manchmal vor große Aufgaben.“ Zweimal
       wird ihr das eigene Leben zu voll, „um noch mit klarem Kopf Prioritäten
       setzen zu können“, zweimal verkauft sie die Praxis. Danach tritt sie in
       keine Falle mehr. Um 2014 herum zieht sie in das Haus an der Krummen Lanke,
       stellt dort einen Behandlungstisch im Allzweckzimmer auf, betreibt weiter
       das Geschäft mit den Salben. Dann kommt Patient Zero und alles wird doch
       wieder anders.
       
       Fritzi: An einem Tag im Frühling 2021 bekommt Laininger ein Waschbärbaby
       auf den Tisch. Dehydriert, unterernährt, viel zu klein. Zwei Jungen hatten
       es aus einem Fluss gerettet. „Beim Angeln trieb da ein kleines Ding vorbei,
       und das war Fritzi“, sagt Laininger, so als wäre das ein Wink des
       Schicksals. Die Eltern der Jungen wollen Fritzi nicht aufnehmen, also
       bleibt Fritzi bei Laininger, und die fragt sich: Was nun? Eine
       Wildtierrettung gibt es keine in Berlin; das Tier wächst weiter und
       Laininger ans Herz. Sie liest sich in Sachen Waschbären ein, beantragt eine
       Genehmigung samt Bauplan für ein Außengehege.
       
       Der Instagramstar: Fritzi bleibt für immer und Fritzi wird ein Star. Kurz
       nach dem Einzug des Waschbärenjungen sagt Laininger zu einer Freundin „Es
       wäre doch cool, jeden Tag ein Bild von Fritzi zu machen.“ Die Freundin
       schlägt einen Instagram-Account vor. Seitdem postet Laininger jeden Tag
       ein Bild oder ein Video, [3][der Account] wächst schneller als die
       Waschbärin, zählt bald Tausende Abonnent:innen.
       
       Mehr Waschbären: Lainingers Waschbärenrettung spricht sich rum, nach Fritzi
       kommt Paul, dann Marvin, die hat nur drei Beine. Die Firma mit den
       Kräutersalben läuft weiter, aber zum Anrühren geht sie nun zu ihrem
       Partner, „für mehr Ruhe“. Denn Waschbären wollen beschäftigt werden. Von
       morgens bis abends sind ein bis zwei ehrenamtliche Helfer:innen bei
       Laininger, Steuerberater, KfZ-Mechaniker, eine Frisörin. Das Leben der
       Tierärztin füllt sich wieder, wie damals in der großen Praxis. Aber die
       Waschbären geben ihr etwas zurück, sie lehren sie etwas, jeden Tag: Geduld.
       
       Loslassen: Waschbären seien ein bisschen wie dreijährige Kinder. Das mache
       sie für Laininger zu etwas Besonderem. Manche Waschbären hatten die Augen
       noch geschlossen, als sie zu ihr kamen. „Das, was sie zuerst sehen, halten
       sie für ihre Mama“, sagt sie. „Und das war ich.“ Und als Mama lernt
       Laininger bald loszulassen. „Ich habe viele schöne Dinge gehabt. Vieles ist
       weg oder kaputt. Die Ohrringe liegen hinterm Kleiderschrank, viele Kleider
       haben Löcher. Ich habe den dritten Laptop und das zweite Handy, seit ich
       die Waschbären habe. Einmal im Monat muss meine Brille repariert werden“.
       Sie macht eine Pause und schiebt nach: „Nee, du musst Prioritäten setzen,
       sonst geht es nicht.“ Man könne es aber auch so sehen, sagt sie und lacht:
       „Waschbären wissen, du sollst nicht an weltlichen Dingen hängen“, sie seien
       eine große Hilfe [4][beim Ausmisten].
       
       Schlecht Nein sagen können: Irgendwann macht Laininger Fritzis
       Instagram-Fans ein „Meet and greet“-Angebot. In Scharen kommen sie,
       verbringen ganze Tage auf Lainingers Terrasse, abends bestellt sie ihnen
       Sushi. Da ist sie wieder, die Schlecht-nein-sagen-können-Falle, und der
       Moment für Prioritäten. Also setzt Laininger ein Zeitfenster, alle
       müssen Datteln mitbringen und 20 Euro spenden, für den Waschbären-Verein,
       den Laininger mit ein paar Leuten gegründet hat. Trotzdem kommt manchmal
       etwas oder jemand zu kurz. Der Hund zum Beispiel, der müsste längst
       geschoren sein.
       
       Lobbyarbeit: Die Waschbären machen aus der Tierärztin bald eine Aktivistin.
       Die EU hat das Tier [5][2016 auf die Liste der invasiven Arten gesetzt]. In
       der Wissenschaft ist jedoch umstritten, wie man die Population solcher
       Arten regulieren kann. Ein altes Rezept: jagen. Aber Jagen bringe nichts,
       meint Laininger. „Wenn du Waschbären extrem bejagst, wächst die Population:
       Die Weibchen werden früher geschlechtsreif, kriegen größere Würfe und mehr
       weiblichen Nachwuchs, der wiederum früher geschlechtsreif wird und so
       weiter.“ Die Wissenschaft nennt das: Kompensatorische Fertilität. Außerdem
       würden Studien außer Acht gelassen, die belegten, dass die Schäden an
       heimischen Arten durch den Waschbär gering seien. Da müsse sich der Mensch
       an die eigene Nase fassen, der habe schließlich mit der Invasion in
       Lebensräume angefangen.
       
       Das Projekt: „Der Waschbär braucht eine Lobby“, sagt Laininger, und die
       Lobby um die Westberliner Keimzelle wächst. Um die 40 Mitglieder hat ihr
       Waschbär-Verein, die besonders Aktiven nehmen auch mal Waschbären mit in
       eine Schule, für die Bildungsarbeit. Und dann ist da noch das Pilotprojekt,
       mit dem die Großstadtwaschbären sterilisiert oder kastriert werden sollen.
       Und zwei [6][Petitionen zur Streichung des Tieres von der EU-Liste].
       Lainingers Leben ist voll, und der Waschbär hat Priorität.
       
       23 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Waschbaeren-Plage/!5874823
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   DIR [6] https://www.change.org/p/helft-uns-die-unsinnige-und-brutale-jagd-auf-waschb%C3%A4ren-zu-stoppen
       
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   DIR Nora Belghaus
       
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