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       # taz.de -- documenta fifteen endlich beendet: Die Party in Kassel ist over
       
       > Wenig Kunst, viel Krampf und ein hoffnungslos überfordertes Kuratorenteam
       > auf der Weltkunstschau. Zurück bleibt ein Scherbenhaufen.
       
   IMG Bild: Eine der harmloseren Installationen des indonesischen Agit-Prop-Kollektivs Taring Padi in Kassel
       
       Sie hatten mit ihrer Ernennung, die künstlerische Leitung der documenta
       fifteen zu übernehmen, einen vielleicht zu großen Auftrag erhalten. Das
       [1][Kuratorenkollektiv ruangrupa] sollte ein Gemeinschaftsgefühl schaffen,
       und das in unserer Gegenwart der Konflikte. Ihre Partys im Jakarta der
       Nullerjahre seien legendär gewesen. Dort, im gerade von der brutalen
       Suharto-Diktator geprägten Land, hätten sie unterschiedlichste Menschen
       unter dem Dach einer freudvollen Kunst zusammengebracht.
       
       So etwas sollte auch in Kassel geschehen, wie beim letzten
       Meydan-Wochenende der documenta. Eine Lichtprojektion bespielte die Fassade
       eines verödeten Industriebaus, DJs legten Chansons aus dem Indonesien der
       1960er Jahre auf, ein paar Meter weiter führten die Tänzer:innen des
       Sa-Sa-Art Project aus Kambodscha ein queeres Ballett auf. Man meinte, etwas
       zu spüren von den kollektiven Prozessen, die diese documenta anregen
       wollte. Von einer Kunst, die auf gemeinschaftliches Erleben setzt, die
       unmittelbar funktionieren soll.
       
       Doch nur ein paar Meter weiter kippte dies in eine moralische Beliebigkeit.
       Im Hübner Areal lief eine Filmreihe ab, die mit harten Kriegsbildern klare
       Feindbilder inszenierte. [2][Die Reihe „Tokyo Reels“ des Kollektivs
       Subversive Film zeigte Archivfilme] des bewaffneten palästinensischen
       Widerstands während des Bürgerkriegs im Libanon. Unterlegt mit
       zeitgenössischen Kommentaren, von einer „zionistischen Verschwörung“ war
       darin die Rede, historische Fakten wurden verzerrt.
       
       ## Empörung statt Erklärung
       
       Für die letzten Tage der Kunstschau solle diese Filmreihe abgeschaltet oder
       zumindest kontextualisiert werden, empfahl ein Expertengremium, das von der
       documenta gGmbH beauftragt wurde, die Kunstschau auf antisemitische Inhalte
       zu überprüfen. Denn genauso unmittelbar, wie in die grazile Performance der
       Ballettgruppe, wurde das documenta-Publikum auch hier hineingeworfen in
       diese Filmprojektion, umspült von antisemitischer Agitation. Ruangrupa
       reagierte empört auf die Empfehlung, sah sich rassistisch angegriffen.
       
       Auch die Findungskommission der documenta, die das Kuratorenkollektiv nach
       Kassel geholt hat, wehrte sich gegen die Empfehlung: „Wir verteidigen das
       Recht der Künstler*innen, politische Formeln und festgefahrene Denkmuster
       zu untersuchen, bloßzulegen und zu kritisieren.“
       
       [3][Mit dieser Aussage scheint die Findungskommission den Kunstbegriff]
       ihrer eigenen documenta missverstanden zu haben. Es wirkt, als beriefen sie
       sich auf eine Kunst, die sich auf Abstand hält, deren ästhetische
       Übersetzung ethischer Fragestellungen in ein Kunstwerk auch durch einen
       kritischen Filter läuft.
       
       Doch dieser kritische Filter existierte oftmals auf der documenta nicht,
       [4][weder auf der Ebene der Kunstwerke noch auf der ihrer Vermittlung.] Das
       wurde allen schmerzhaft bewusst, als das [5][Protestbanner von Taring Padi
       am Friedrichsplatz entrollt] wurde und seine antisemitischen Zerrbilder
       zutage kamen. Da war der Skandal schon geschaffen.
       
       ## Fehlender ästhetischer Filter
       
       Ruangrupa wollten keine Bildwerke, sondern Kunstkollektive nach Kassel
       holen. Sie wollten Gruppierungen sichtbar machen, die oftmals in ihren
       Herkunftsländern eine freie kulturelle Arbeit überhaupt ermöglichen. Mit
       einem Hang zur einseitigen Kapitalismuskritik, die sich mit einer
       Israelkritik vermengt, hat ruangrupa nach vorgeblich ethischen Kriterien
       gewählt.
       
       Doch sie ließen das Ästhetische außer Acht, ignorierten, welche Bilder auf
       einer so großen Kunstschau zu sehen waren und welche Botschaften diese vor
       einem hunderttausendfachen Publikum verbreiteten. Auf die Frage, ob sie
       sich jemals die „Tokyo Reels“ angeschaut hätten, antwortete ruangrupa in
       Interviews, [6][man müsse ja vertrauen können].
       
       Vielleicht sollte auf der documenta fifteen ein neues Kunstverständnis
       gefeiert werden, aber aus diesem entstand oftmals eine ungehobelte Kunst,
       engagiert für die eigene Sache und häufig blind gegenüber der politischen
       Komplexität, in der wir leben.
       
       Eine Komplexität, die durch das Prisma der Vernunft, des aufmerksamen
       Schauens und des gegenseitigen Aufklärens hätte aufgefangen werden können,
       [7][noch bevor all die Verletzungen entstehen,] mit der sich die documenta
       nun plagt. Ein solch kritischer Filter im Vorfeld der Ausstellung wäre
       nicht bevormundend gewesen, oder aus einem „westlichen, weißen“
       Überlegenheitsgefühl herausgekommen, sondern hätte vielleicht eine gute und
       nötige Diskussion ergeben.
       
       24 Sep 2022
       
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